Süddeutsche Zeitung

Kontraproduktive Bildungsreform:"Überstehen ist alles"

Bulimie-artiges Lerrnverhalten und unsinniger Druck: Als unbefriedigendes Resultat der Bildungsreform widmen sich Studenten und Schüler nur noch mit trockenem Fleiß ihren Aufgaben. Jedem Streben, das über die Anforderungen im mindesten hinausweist, ist der Garaus gemacht worden.

Burkhard Müller

Über zwei Dinge scheint Einigkeit zu bestehen: dass Bildung ein schätzenswertes Gut darstelle, in das eine Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs investieren muss; und dass sie, so vage ihr Begriff auch oft erscheinen mag, einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt umfasst. Beide Aspekte sind innig ineinander verschränkt. Wenn ein Schüler den "Erlkönig" auswendig lernt, dann trainiert er sein Gedächtnis (das wäre der formale Aspekt).

Aber er kann dies nur tun, indem er sich das Gedicht aneignet; und sein Gedächtnis (verstanden als die Ressource der Merkfähigkeit) wird umso mehr profitieren, je mehr er sich in dieses Gedicht vertieft, in Nacht und Wind und Müh und Not und Erlkönigs Töchter. Dann geht die Ballade vielleicht sogar ohne eigentliche Anstrengung in seinen Kopf über - während Gleichgültigkeit und Unlust entstehen, wenn es nur um den formalen Gewinn gehen soll.

Das Bildungswesen und die es begleitende Bildungsreform scheinen jedoch verdammt, die zwei Aspekte immer zu trennen und gegeneinander auszuspielen. Das führt zu einer Dynamik des Pendelschlags, der immer genau so weit in die andere Richtung übers Ziel hinausschießt, wie es zuvor in die eine Richtung des Guten zu viel gewesen war. Die Schulreform der sechziger und siebziger Jahre hatte beabsichtigt, den Zugang zur höheren Bildung breiteren Schichten als bisher zu öffnen und dabei zugleich veraltetes ideologisches Geröll auszusondern. Beide Impulse kamen überein im Verdacht gegen das Inhaltliche der Lehrpläne, dem man als ebenso reaktionär wie elitär misstraute. Bei der allfälligen Entrümpelung wurden neue Ziele formuliert, die es vorwiegend mit Fähigkeiten und Fertigkeiten zu tun hatten.

Nun ist gegen Fähigkeiten und Fertigkeiten gewiss nichts einzuwenden, im Gegenteil; aber man erwirbt sie nur, wenn es einem mit den Dingen, die man treibt, ernst ist. Als in den Gymnasien die Kollegstufe eingeführt wurde, griff die Universität, verstanden oder missverstanden als wissenschaftliches Formkonzept, hinab in den Schulbetrieb. Im Leistungskurs Erdkunde wurden, beispielsweise, die Wirtschaftsräume der Sowjetunion behandelt - doch nicht etwa in der Absicht, dass die Kollegiaten einen Überblick bekämen, wie der kommunistische Osten an verschiedenen Stellen wirtschaftet; sondern Donbas und Kusbas und Ural interessierten allein als Beispiele für einen Problemkomplex, der in selbständiger Erkenntnisleistung auch in jeder anderen Wirtschaftsregion aufzuspüren war.

Dieser Problemkomplex trug den Namen der "Raumweite". In der Praxis sah das so aus, dass einer der Kursteilnehmer an einem bestimmten Punkt der Erörterung laut ausrief: "Gong!", woraufhin ein anderer Kollegiat sich zu Wort meldete und verkündete, es sehe ganz danach aus, als hätten wir es wieder einmal mit einem Phänomen aus dem Formenkreis der Raumweite zu tun . . . Muss eigens betont werden, dass wir dabei weder etwas Vernünftiges über die sowjetische Ökonomie gelernt haben, noch die geringste Achtung vor dem intellektuellen Prozess des Transfers bekamen?

Als verzögerten Gegenschlag zur Kollegstufe kann man die Universitätsreform bezeichnen, die an die Stelle der alten akademischen Abschlüsse den Bachelor und den Master gesetzt hat. Mindestens vom Bachelor-Studiengang ließe sich behaupten, dass nunmehr die Schule hinauf in die Universität griff. Konnten vor dreißig Jahren die Gymnasiasten sich ihr Kursmenü selbst zusammenstellen, so dürfen die Bachelor-Studenten (wenigstens in extremen Fällen) das nicht mehr, sondern sie erhalten den Lehr- und Stundenplan weithin fertig vorgesetzt. Wen wundert es, dass die Studierenden sich da ihrerseits wie Schüler benehmen?

Dazu gehört ein trockener Fleiß, der dennoch den Arbeitsaufwand zu minimieren strebt; ein bulimie-artiges Lernverhalten (erst rasender Verzehr eines Pensums, dann dessen Reproduktion in einem Akt der Entleerung); nicht zuletzt ein Argwohn gegen jeden, der ein eigentliches Interesse am Gegenstand zu erkennen gibt. Der Feindfigur des "ewigen Studenten" ist damit der Garaus gemacht worden; allerdings auch jedem Streben, das über die Anforderungen im mindesten hinausweist.

Aber es ergibt sich, dass gerade dann, wenn alles nur auf den Lernstoff ankommen soll, auch der Stoff nur noch in seiner abstraktesten Eigenschaft, als Stoff eben, in Betracht steht und damit wiederum seiner Formalisierung ausgeliefert wird. Wenn alle sich darüber einig sind und nur noch darauf achten, dass siebzig Prozent vom Stoff gewusst zu haben noch einen Zweier bedeutet, dreißig Prozent jedoch für einen Schein nicht genügen - dann spielt es keine Rolle mehr, ob einer diesen Prozentsatz in Assyrologie oder Medienkommunikation erreicht hat. Unter diesen Umständen beweist ein Hochschulzeugnis gleich welchen Fachs nur noch eines: dass der Absolvent in der Lage ist, unter starkem, auch unsinnigem Druck mit gewisser Hartnäckigkeit ein Ziel zu verfolgen - irgendeins. Das Dokument, das er in Händen hält, besagt ungefähr so viel wie Rilkes Verszeile: "Wer spricht von Siegen - überstehn ist alles." Und das soll drei oder gar fünf Arbeits- und Lebensjahre wert sein?

Woran liegt es, dass alle Bildungsreform diese unergiebige, undialektische Gestalt des Pendelschlags oder Backlashs annimmt? Einmal abgesehen davon, dass komplette Branchen der Kulturindustrie zur Arbeitslosigkeit verurteilt wären, wenn es anders würde: Am ehesten dürfte der Grund darin zu suchen sein, dass die Bindung von Inhalt und Form sich ihrer verwaltungstechnischen Festlegung entzieht.

Sie gelingt oder misslingt in im einzelnen pädagogischen und lernerischen Akt, für den man zwar den Rahmen setzen kann, der sich aber nicht in ausdrücklicher und allgemeiner Weise vorab garantieren lässt. Die Regelwerke mit ihren eckigen Paragraphen dagegen vermögen Form und Inhalt nur je für sich und folglich nacheinander zu bestimmen. Und genau das tun sie dann auch. Immer wenn sie sich gerade der einen Seite zuwenden, kommt die andere zu kurz, sodass alsbald kompensatorischer Bedarf entsteht. Der aber lässt sich in diesem System der reinen Antagonismen nur in der hastigen Überkompensation stillen.

Um doch zu so etwas wie einer Synthese zu gelangen, müsste zuallererst einmal Übereinstimmung erreicht werden, was sich zu lernen lohnt, und zwar um seiner selbst willen. Unzutreffend ist, dass ein bestimmtes Wissen zu erwerben sich nicht mehr rentiere, da jegliches Wissen in kürzester Zeit der Veraltung verfalle. Auch in fünfzig Jahren noch werden die Sprachen im Großen und Ganzen nach demselben Muster funktionieren, werden die Nebenflüsse des Rheins noch sämtlich an Ort und Stelle sein und die Wiesenblumen überwiegend. Damit ist der harte Kern angedeutet, auf dem man beharren sollte und der sich gegebenenfalls aufstocken lässt. Bildung kann gar nicht konservativ genug sein. Nur dann vermag sie nötigenfalls auch Rebellen hervorzubringen, während häufig wechselnde Lehrpläne bloß dazu führen, dass die Seelen verloren in der Historie umherirren.

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SZ vom 20.08.2011/cris
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