Süddeutsche Zeitung

Kontinuität der Skandalrede:Das wird man doch sagen dürfen

Sibylle Lewitscharoff stilisiert sich mit rhetorischen Figuren indirekt zum Opfer des universellen Tugendterrors. Mit ihrer Skandalrede zur künstlichen Befruchtung steht die Autorin jedoch in der Reihe derer, die es ebenfalls nicht verstanden haben, die richtigen Worte zu finden.

Von Christopher Schmidt

Es ist äußerst aufschlussreich, mit welchen Formulierungen die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihre völlig unakzeptable Dresdner Rede in der Freitagsausgabe der FAZ verteidigt hat. Als "Würzmittel", um die Leute "aufzuwecken", komme einem schon mal "ein scharfer Satz" unter, so verniedlicht sie ihre katastrophale Entgleisung zum artistischen Kunstgriff, zur bloßen Arabeske.

Ihr Vergleich der Reproduktionsmedizin mit den Kopulationsheimen der Nazis, sagt sie, sei eine "polemische Übertreibung an richtiger Stelle". Und ihre Herabwürdigung in vitro gezeugter Kinder als "Halbwesen" rechtfertigt sie mit der Stammtisch-Parole "Das wird man doch sagen dürfen". Indirekt stilisierte sie sich mit solchen rhetorischen Figuren - sie nennt sie "schwarze Gedanken" - zum Opfer des universellen Tugendterrors, weil sie missliebige, ja unterdrückte Gedanken ausspreche und mutig wider den Stachel der politischen Korrektheit löcke.

Doch Sibylle Lewitscharoff verkehrt Ursache und Wirkung unter Berufung auf die Mär vom Künstler als unbequemem Boten. Dichterische Freiheit lautet die nüchterne Version dieser besonderen Lizenz. Daneben gibt es deren emphatische Überhöhung. Die bis in unsere Tage nachwirkende Kunstreligion der Genieepoche hatte den Schriftsteller zum Seher verklärt. Er verfüge über einen exklusiven, divinatorischen Zugang zu tieferen, dem Normalsterblichen ewig unergründlichen Wahrheiten. Deshalb unterliege er nicht den allgemeinmenschlichen moralischen Maßstäben, müsse sich vielmehr sogar über diese hinwegsetzen.

Indem Sibylle Lewitscharoff das im Grundgesetz verankerte Vorrecht der Kunst zum Regelverstoß von dem Bereich der Poesie auf den der Ethik, von der rein expressiven Form der Rede auf die der behauptenden überträgt, stellt sie sich in eine Reihe deutscher Schriftsteller, die es in der Vergangenheit ebenfalls schon nicht verstanden haben, die richtigen Worte zu finden. Stattdessen wedelten sie mit dem Freibrief ihrer Unabhängigkeit herum, um sich gegen Kritik zu immunisieren, und spielten die verfolgte Unschuld.

Als Botho Strauß 1993 in seinem Essay "Anschwellender Bocksgesang" die Demokratie in Frage stellte, als Peter Handke 1996 die serbischen Kriegsverbrechen verharmloste und Martin Walser 1998 davon sprach, dass Auschwitz als "moralische Keule" instrumentalisiert werde, folgten sie genau demselben Paradigma der Viktimisierung, also der Bewirtschaftung der vermeintlichen Opferrolle. Dass dieser Mechanismus immer wieder einschnappt, lässt sich mit zwei Entwicklungen erklären: der Marginalisierung des Künstlers als öffentlicher Figur und moralischer Instanz einerseits und der Liberalisierung der Gesellschaft andererseits.

"Épater le bourgeois" - mit diesem Schlachtruf war die Kunst einst in den Kampf gezogen. Dem bürgerlichen Philister sollte die Maske vom Gesicht gerissen werden, denn die Kunst verstand sich als Vorschule einer freien, selbstbestimmten Gesellschaft. Faktisch verlief jedoch die historische Entwicklung anders: Ihre Autonomie errang die Kunst nicht als Vorwegnahme einer besseren Welt, sondern als deren symbolischer Ersatz. Insofern aber trug sie dazu bei, die bestehenden Verhältnisse zu stabilisieren.

Wer gewährleistet diese Werte eigentlich?

Die negative Dialektik dieser Entwicklung hat Peter Bürger schon in den Siebzigerjahren in seinem Buch "Theorie der Avantgarde" beschrieben. Die Kunst habe, so Bürger, eine widersprüchliche Rolle inne: Sie entwerfe eine bessere Ordnung, aber indem sie diese Ordnung im Schein der Fiktion verwirkliche, entlaste sie die Gesellschaft von dem Druck, sich zu verändern. Der Preis für ihre Freiheit, aus der heraus sie allein zum kritischen Korrektiv werden könne, sei daher Wirkungslosigkeit.

Dass die Kunst nach wie vor die Reibungswärme des Tabus braucht, um sich noch relevant zu fühlen, beweist nur, wie verzweifelt sie an den Stäben ihres goldenen Käfigs rüttelt. Vor allem, weil die heutige Konsensgesellschaft solche Denkverbote kaum noch zur Verfügung stellt. Daraus erklärt sich der merkwürdige Rollentausch, dass konservative Kräfte diese kraftlos gewordene Position okkupiert haben, um wie Martin Mosebach und andere im selben rebellischen Gestus gegen die als ihrerseits repressiv empfundene Permissivität zu opponieren. Umgekehrt werden Schriftsteller, die sich tatsächlich moralisch engagieren wie Juli Zeh und Ilija Trojanow mit ihren Aktionen gegen staatliche Überwachung als naive und weltfremde Traumtänzer verlacht.

Dass die Gegner einer offenen Gesellschaft bei ihrem Protest auf eben diese offene Gesellschaft pochen, ist ein Widerspruch. Aber der Widerspruch spiegelt sich in der Gesellschaft selbst, die im Vollgefühl der Alltoleranz die Provokation ihrer eigenen Werte als Lustkitzel genießt. Nur: Wer gewährleistet diese Werte eigentlich? Eine Geisteshaltung, wie sie Sibylle Lewitscharoff gerade offenbart hat, ganz gewiss nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1907278
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.03.2014/ihe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.