Industriedesigner Konstantin Grcic:Sitzen lernen

Industriedesigner Konstantin Grcic: Monobloc, nur besser: Konnstantin Grcic mit seinem Bell Chair. PR

Monobloc, nur besser: Konnstantin Grcic mit seinem Bell Chair. PR

(Foto: Michael Mann)

Der "Chair_One" machte Konstantin Grcic weltberühmt. Nun würdigt eine Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee die Formensprache des Industriedesigners, die er selbst kuratiert hat - nicht immer zu seinem Vorteil.

Von Peter Richter

Über Designer kursieren, wie man weiß, fünf sehr verschiedene Klischees: erstens, dass sie ihren Gestaltungsehrgeiz am liebsten Dingen widmen, von denen man meinen könnte, dass es sie eigentlich bereits in erschöpfender Formenvielfalt gibt, meistens Sitzmöbeln, bevorzugt Stühlen. Zweitens, dass sie manchmal tatsächlich einen Stuhl erfinden, dem man danach immer und überall wieder begegnet, weil er in Form und Materialität seine Zeit auf den Punkt zu bringen scheint, aber auch Jahrzehnte später noch neben Dingen aller möglichen anderen Epochen eine gute Figur macht. Dass sich drittens jedoch, wer von so einer Neuerfindung des Stuhls vor allem einen Zuwachs an Bequemlichkeit erwartet, als Banause blamiert. Dass die Designer viertens nämlich furchterregend ernst und schwerwiegend sowie mit dringlichem Kunstanspruch dreinblicken und daherreden können. Oder aber, fünftens, dass sie zum Basteln von Scherzen neigen, zu Pointen in 3D.

Wer alle fünf jetzt einfach einmal zusammendenkt, ist insgesamt schon gar nicht so schlecht vorbereitet auf Konstantin Grcics von ihm selbst eingerichtete Ausstellung "New Normals" im Haus am Waldsee in Berlin. Denn Grcic ist heute vielleicht der bedeutendste, recht sicher aber der bekannteste lebende Industriedesigner in diesem Land. Das liegt nicht unwesentlich an einem Stuhl, der ihn 2003 auf einen Schlag weltberühmt gemacht hat, und der in der Tat auch gar nicht genug gerühmt werden kann. "Chair_One", wie er offiziell heißt, sieht praktisch exakt so aus, wie der Name klingt, genauso elementar und genauso manieristisch in diesem leicht größenwahnsinnigen Anspruch, elementar zu sein: Der Unterstrich als typografischer Schnörkel der Rechentechnik sagt im Grunde schon alles. Die Sitzschale ist vielmehr nur das Gerippe einer solchen, ein hartes Skelett aus stabilen Dreiecksverbindungen aus Aluminiumdruckguss, mit Titan behandelt, mit Polyester lackiert, feuerfest, wetterbeständig: ein Stuhl für ein stürmisches Draußen, der deswegen umgehend die Salons erobert hat. (Die Zeiten, in denen sich die Leute Klappsitze aus dem Kino, Frisiersessel oder aufgeschnittene Einkaufswagen in ihre Lofts gestellt hatten, waren prägend gewesen; ganz vorbei sind sie ja, wie Airbnb lehrt, bis heute nicht.)

Den Chair_One gibt es sogar mit vier Beinen - aber ikonisch ist er mit Betonsockel

Man kann passende Kissen dazu kaufen, um ein bisschen gemütlicher zu sitzen; macht aber so gut wie niemand. Es gab ihn mit vier Beinen, aber ikonisch geworden ist die Version mit Betonsockel. Ikonisch deswegen, weil hier alles zu einem einzigen, facettenreichen Bild gerinnt: nicht nur das Leichte und das Schwere, sondern die Essenzen der Moderne, die leichten Tragwerke und der Sichtbeton. Man könnte auch sagen: Konrad Wachsmanns Flugzeughangars und der Bunkerbau. Militärisches hat ziviles Design ja immer beflügelt. Auch die beliebten Midcentury Modern-Möbel des Ehepaares Eames waren ein Kollateralnutzen der Rüstungsindustrie für das Wohnzimmer, und vielleicht ist es kein Zufall, dass Grcics Stuhl heute so gern und so gut damit kombiniert wird, denn vielleicht verhalten sich die Dinge hier tatsächlich wie der Manierismus zur Renaissance - die Antike dazu wären dann die Stahlrohrmöbel, mit denen die klassische Moderne den Ersten Weltkrieg ästhetisch sublimiert hat.

Industriedesigner Konstantin Grcic: Chaiselongue Traffic: für die Ausstellung von Konstantin Grcic mit Selfie-Sticks ausgestattet.

Chaiselongue Traffic: für die Ausstellung von Konstantin Grcic mit Selfie-Sticks ausgestattet.

(Foto: Florian Böhm)

Vor dem Chair_One kommt einem das Gerüst eines Stealth-Bombers in den Sinn oder eine Ducati Monster, der Inbegriff eines "Naked Bike" um die Jahrtausendwende, bevor das Freilegen der entfleischten Konstruktion auch bei Sportwagen zu beobachten war. Selbst dass er noch deutlich unbequemer aussieht, als er es letztlich ist, muss man Grcics Stuhl zugutehalten. Er hatte ihn immerhin in eine Zeit hineindesignt, in der das "Loungen" epidemisch wurde, als Begriff wie als Haltung. Der Chair_One lud ausdrücklich nicht dazu ein, das Leben in verpupten Polstern zu verdösen, sondern auf dem Sprung zu bleiben, lebendig, in Bewegung. Das war natürlich insbesondere da ein bemerkenswertes Statement, wo Gastronomen ganze Restaurants damit möblierten.

Und jetzt begegnet einem dieser eigentlich so dynamische Sitz im Haus am Waldsee praktisch als sein Gegenteil: nebeneinander aufgeschraubt auf eine Bank, die an einer selten bedienten Bushaltestelle irgendwo in Brandenburg zu stehen scheint. Jemand hat Kabelbinder um jede einzelne Strebe gezogen - als klares Werk der Langeweile. Der dazu passende Barhocker Miura (nicht nur der Name lässt an Lamborghini denken, sondern auch die Form) steht dafür mit dickem Vorhängeschloss angeleint an einem Fahrradbügel. Und auch das ist auf den ersten Blick zwar mild erheiternd, auf den zweiten und alle weiteren dann aber eher deprimierend.

Eingeladen werden Ortsansässige, die noch keine Einzelausstellung in Berlin hatten

Katja Blomberg, die bisherige Leiterin des Hauses am Waldsee, hatte hier die verdienstvolle Tradition eingeführt, speziell ortsansässige Künstler, Architekten und Gestalter auszustellen, die zwar in der Welt einen Namen haben, aber in Berlin noch keine Einzelausstellung hatten. Konstantin Grcic zählt insofern dazu, als er nach Jahrzehnten in München ebenfalls nach Berlin gezogen ist. Angekommen war er hier aber natürlich schon lange vorher. Wer es in bestimmten Milieus von Berlin-Mitte darauf anlegte, konnte hier in den letzten zwanzig Jahren jeden Morgen neben einer anderen Person aufwachen - aber so gut wie nie, ohne dass eine Mayday-Lampe von Grcic daneben stand. Jetzt hängen die vom Camping inspirierten Lieblingsbettleuchten der Berliner Boheme hier an den Wänden wie Feuerlöscher nach einer besonders peniblen Brandschutzverordnung. Sessel stehen hier nicht einfach nur im Raum, sondern hinter einer von der Decke hängenden Windschutzscheibe, damit sie nach Autositz aussehen. Und zwei Sofas zusammengerückt ergeben was? Kinder wissen es, Eltern ebenfalls, und die Leute, die untendrunter wohnen, kommen um die Erkenntnis auch selten herum. Aber wenn der Designer selbst am lautesten "Trampolin" ruft und ein entsprechendes Netz darüber hängt, nimmt es der Sache vielleicht mehr von ihrem Zauber, als es ihr hinzufügt. So viele Jahrzehnte nach den Felltassen und Vogelbeintischen von Meret Oppenheim haben überraschende Kombinationen immer noch ihre Wirkung - allerdings ist das halt immer auch die Wirkung eines Kunstehrgeizes, der die Nähe zu Dada und Surrealismus sucht. Das hätten Grcics Arbeiten aber gar nicht unbedingt nötig.

Kuratorische Beiworte suchen hier entsprechend ambitioniert nach Überhöhung. Thematisiert würden die noch ungewohnten "neuen Normalitäten" in verschiedenen möglichen "Zukünften". Was jetzt noch seltsam wirke, sei bald selbstverständlich. So wie den Menschen in den letzten beiden Jahren Masken vors Gesicht gewachsen sind, die manche sich jetzt gar nicht mehr wegdenken wollen, wachsen hier eben aus einer Liege Selfiesticks und Handyhalter. Na gut. Immerhin sieht es unterhaltsam aus. Allerdings tun Grcics Möbel das ohnehin. Den Designer, der sich seine Berliner Willkommensausstellung selber einrichten durfte, trieb dabei sichtlich die Angst, dass seine Arbeiten in der Zehlendorfer Fabrikantenvilla als das zu stehen kommen, was sie nun einmal im Alltag meistens sind: zeitgenössische Möblierungen von Altbauwohnungen.

Als das sind sie aber eigentlich schon wichtig, wirksam und sehenswert genug, wenn es nun einmal schon wieder wesentlich um Möbel geht. Noch sehenswerter wäre nur, was Grcic sonst noch so alles gestaltet hat. Denn das ist ja auch eine Menge, und nicht besonders gemütlich sitzen kann man darauf im Zweifel sicher ebenfalls.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusBäh-Design
:Dies ist kein Problemstuhl

Milliarden Mal hergestellt, billig und hässlich: "Monobloc" ist der Bad Boy des Designs. Ein Journalist opfert acht Jahre, um daraus Buch, Film und Podcast zu machen. Warum?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: