Es gab jüngst in Berlin eine gewisse Aufregung um das Gedicht "avenidas" von Eugen Gomringer. Viele Worte wurden darüber verloren, welcher Art die Blicke sein mochten, die darin ein admirador, ein Bewunderer, auf blumen und frauen (flores y mujeres) wirft. Demnächst soll das Gedicht von der Fassade einer Hochschule entfernt werden.
Sehr willkommen ist in dieser Lage der Band "Poema" mit Essays von und über Eugen Gomringer, der auch zahlreiche Gedichte von ihm enthält. Wer die "konkrete Poesie", für die Gomringer steht, nur vom Hörensagen kennt, kann hier erfahren, woher sie kommt. Und er lernt en passant viele Geschwister der Frauen, der Blumen und der Alleen kennen, und außerdem Gomringer-Bewunderer, darunter Peter von Matt. Er wird hineingezogen in die Nachkriegszeit in Deutschland und der Schweiz, folgt Gomringer und Max Bill an die Hochschule für Gestaltung in Ulm, erkennt dahinter in Gestalt von Josef Albers das Bauhaus der Weimarer Republik.
Die Zeit wird in diesen Gedichten von einer Max-Bill-Uhr abgelesen
Und wenn dann die acht Zeilen des avenidas-Gedichtes auftauchen, wundert er sich nicht mehr über die Kleinschreibung, das Fehlen aller Interpunktionszeichen und die Positionswechsel der Worte im Reigen der Wiederholungen. Und auch nicht darüber, dass das Gedicht auf einer Hauswand landete. Schon als es 1953 in der Zeitschrift Spirale erstmals erschien, wollte es heraus aus der Bücherwelt. Allein, mit viel Weißraum um sich, strebte es im Format 35 mal 50 cm Richtung Plakat. In seiner Einfachheit und Knappheit suchte es die Nähe zur damaligen Avantgarde in Design, Grafik und Architektur , und die Zeit, die es brauchte, um gelesen zu werden, wollte von einer von Max Bill gestalteten Uhr abgelesen werden.
Aber was heißt schon gelesen? Die Buchstaben der konkreten Poesie wollen ebensosehr Gegenstände der Betrachtung wie der Lektüre sein. "Konstellationen" nennen sich die Gedichte und legen Wert darauf, dass darin "stella" steckt, der Stern und das Sternbild. An die Stelle der Metapher, der sie die kalte Schulter zeigen, setzen sie die visuelle Pointe, wie die Figurengedichte des Barock.
Sibylle Lewitscharoff singt das Loblied Gomringers so: "Es lebe das Verhackstücken der Sprache, die Zerlegung in ihre einzelnen Teile und die sturköpfige Wiederholung ebenjener Teile, auch der verlorene Buchstabe auf weiter weißer Seitenflur, das Ausscheren der Silben aus der schnurgeraden Reihe und das Auf-den-Kopf-Stellern der Wörter." Gomringers wohl berühmtestem Gedicht "Schweigen" bilden 14 Exemplare der Buchstabenfolge "schweigen" im Blocksatz aus fünf Zeilen ein Rechteck, in dessen Mitte sich eine Leerstelle auftut, die nicht einfach nur leer ist. Ihr scheint die Buchstabenfolge "schweigen", die exakt in sie hineinpassen würde, abhanden gekommen zu sein.
Die konkrete Poesie war immer auch Markenzeichen
Der eindringlichste Kommentar hierzu stammt von Oskar Pastior, der 2001 den Paradoxien der konkreten Poesie nachspürte und Gomringers Leerstelle mit seinen Obsessionen füllte, einschließlich seiner Lagererinnerungen, im Blick auf "das Nierentisch-Design der knappen Machbarkeit und Nüchternheit von materialer Poesie".
Die konkrete Poesie war immer auch Markenzeichen, spielte mit der Nähe zu Industrieprodukten. Von 1967 bis 1985 leitete Gomringer die Kulturabteilung der Porzellanfirma Philipp Rosenthals. Am Ufer von Gomringers mit Wind und See spielendem Gedicht "möv möw luv lee" steht eines der gerade gegründeten Mövenpick-Restaurants. Auch das eine Schweizer Erfindung, und dazu passt, das Gomringers Texte nicht nur das Spanische, Englische, Französische, Hochdeutsche verwenden, sondern auch - wie in "chumm" ("komm") - die Mundart, das "züritütsch". So schlägt er Brücken vom visuellen Gedicht zum Lautgedicht.
Eugen Gomringer: Poema. Gedichte und Essays. Herausgegeben von Nortrud Gomringer. Nimbus Verlag, Wädenswil 2018. 212 Seiten, 29,80 Euro.