Kongress:Wie haben Sie das gemacht, Herr Philosoph?

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Ein internationaler Kongress würdigt in Bochum die Akademie-Ausgabe der Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Aber noch fehlen mehrere wichtige Bände.

Von Jens Bisky

Wer sich mit den Werken Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770 - 1831) nicht beschäftigen will, dem steht ein großes Repertoire vorgefertigter Ausreden zur Verfügung. Da schlummert das verschmutzte Etikett vom "preußischen Staatsphilosophen", obwohl die Republikaner, Radikalen und Revolutionäre des 19. Jahrhunderts oft in Hegels Schule gegangen sind, bevor sie ihr, nicht immer zu ihrem Vorteil, entliefen; da lauert die seit Jahrzehnten modische Kritik am "Systemzwang", als ließe die Wahrheit sich erkennen, ohne aufs Ganze zu gehen; da meldet sich auch die Bescheidenheit, in unserer Zeit könne man doch so nicht mehr philosophieren. Ach.

Die Urteile, Vorurteile und Ausreden widersprechen dem Eindruck unvoreingenommener Lektüreversuche. Hier meldet sich eine Philosophie, die mehr will als ein Gärtlein bestellen, an dem nur man selbst und zwei Nachbarn Vergnügen haben. Hier wird das Denken weder fader Unmittelbarkeit noch leeren Abstraktionen überantwortet. Alles ist Bewegung, gerichtet, mit Fortschritten, aber nicht zum Stillstand kommend. Schon deswegen bedarf es einiger Anstrengung, Hegels Gedankengang zu folgen, das muss man trainieren.

Es gebe "kaum ein philosophisches Werk, dessen Zugänglichkeit so von einer gediegenen Lesefertigkeit abhängt wie das Hegels", schreibt Pirmin Stekeler-Weithof in einem Aufsatz unter dem schönen Titel "Hegel wieder heimisch machen".

Wenn sich an diesem Dienstag gut 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Bochum zum 31. Internationalen Hegel-Kongress treffen, dann finden sie diesen Aufsatz, der bereits Anfang des Jahres in der Philosophischen Rundschau veröffentlicht wurde, in einem Katalog, den der Felix-Meiner-Verlag, eine erste Adresse für philosophisch Interessierte, zum Kongress veröffentlicht hat. Der Anlass ist ein freudiger: Das Vorhaben der Düsseldorfer Akademie, Hegels "Gesammelte Werke" in einer kanonischen, also kritischen Ausgabe herauszugeben, wird in diesem Jahr beendet. 1958 begann die Arbeit, 1968 erschienen die "Jenaer kritischen Schriften" und dann kontinuierlich weitere Bände. Der Katalog des Felix-Meiner-Verlags enthält eine vollständige Übersicht. Die Freude ist allerdings getrübt: Es endet die Förderung durch die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, aber noch fehlen 16 Bände zur Vollendung der Akademie-Ausgabe. Es handelt sich um Vorlesungen Hegels, die zweite Abteilung der Ausgabe. Die 22 Bände der ersten Abteilung, die 2013 abgeschlossen wurde, bringen alle publizierten Schriften und überlieferten Manuskripte.

Der Stil dieses Gelehrten leitet sich aus der Vorlesung ab. Daher die Merksätze

Walter Jaeschke, der 1998 zum Direktor des Bochumer Hegel-Archivs berufen wurde, erklärt im Gespräch, das sechs Bände noch in diesem Jahr erscheinen sollen, neun weitere seien in Vorbereitung. Braucht man die Vorlesungen, deren Text aus Nachschriften konstituiert wird? Mehr als hundert solcher Nachschriften durchaus unterschiedlicher Qualität sind aus rund fünfzig Kollegien überliefert. Sie werden in der Ausgabe nicht alle vollständig abgedruckt, sondern nur die "auf Grund eines quellekritischen Vergleichs sämtlicher Textzeugnisse als beste erkannte Nachschrift", also jene, die möglichst vollständig und ausführlich ist. Varianten aus anderen Nachschriften berücksichtigt der Apparat. Braucht man das? Wenn man Hegel verstehen will, gewiss. Die Vorlesungen, die Hegel in Heidelberg und ab Oktober 1818 in Berlin hielt, waren die Form, in der er seine Philosophie entwickelte und dank derer sie wirkte. In den Vorlesungen entfaltete er jene unglaubliche Breite, die in der Geschichte der Philosophie nur selten anzutreffen ist. Er las über die Wissenschaft der Logik, die Philosophie der Natur, die Philosophie des subjektiven Geistes, die Philosophie des Rechts, der Weltgeschichte, der Kunst, der Religion und über die Geschichte der Philosophie.

Pirmin Stekeler-Weithof, der vor zwei Jahren einen dialogischen Kommentar zur "Phänomenologie des Geistes" veröffentlicht hat, leitet eine Eigenart der "philosophischen Denk- und Sprechweise" aus der Vorlesung ab. Johann Gottlieb Fichte war wohl der Erste, der frei sprach, also alles eigens entwickelte, statt Kompendien oder Textzusammenstellungen vorzulesen. Eine revolutionäre Neuerung der Jahre um 1800. Daher stamme die Form der philosophischen Merksätze, "die Fichte in gewissem Sinn erfindet, zum Beispiel in den orakelartigen Gnomen Ich = Ich und Ich = Nicht-Ich". Solche Merksätze seien auch typisch für Hegel, sie stehen zwischen romantischen Aphorismen und "Schellings schnell geschriebenen Abhandlungen".

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft wird über Anträge zum Abschluss der Ausgabe zu entscheiden haben. Die Akademie-Ausgabe nicht fortzusetzen, würde auch das bisher Geleistete, bereits Vorliegende entwerten, schon weil Register, Literaturverzeichnisse und Anmerkungen dann für einige Bände fehlten.

Dass Hegel eben nicht am Schreibtisch ein System konstruierte, sondern das Wissen seiner Zeit studierte und seine Philosophie am empirischen Material entwickelte, könnte man jetzt schon ahnen. Die vollendete Akademie-Ausgabe würde es ermöglichen, das im Detail nachzuvollziehen und die Frage zu beantworten: Wie haben Sie das gemacht, Herr Professor Hegel?

"Hegel zeigt", so Stekeler-Weithofer, "dass alle diejenigen, welche die Frage nach dem Ganzen der Welt gar nicht mehr stellen, im Glauben, sie nicht sinnvoll stellen zu können, ohne Unsinn zu reden, praktisch schon auf besondere Weise provinziell denken."

"Erkenne dich selbst" ist das Motto des Hegel-Kongresses in Bochum. Es geht um anthropologische Perspektiven, Perspektiven auf "das Wahrhafte des Menschen". Zum "Abschluss der Ausgabe G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke" steht auf dem Kongress-Programm. Ein unabgeschlossener, ein unvollendeter Abschluss. Zu hoffen wäre, dass es ein nur verschobener Abschluss ist, dass eine der Förderinstitutionen im Lande den wahrhaften Abschluss finanziert. Er wäre dann ein Beginn neuer Beschäftigung mit Hegel.

Auf seinem Totenbett soll er gesagt haben, nur einer habe ihn verstanden und auch der habe ihn nicht verstanden. Heinrich Heine erzählt diese Anekdote. Man mag in den Lesesälen großer Bibliotheken zur Akademie-Ausgabe greifen oder unterwegs zu den Studienausgaben der Philosophischen Bibliothek des Felix-Meiner-Verlags: Um den Versuch, Hegel zu verstehen, kommt, wer unsere Welt begreifen will, nicht umhin. Wer darauf verzichtet, zahlt einen hohen Preis.

© SZ vom 17.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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