Süddeutsche Zeitung

Komponisten der Moderne:Die große Unruhe

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Seinen Geist öffnen für Möglichkeiten, die sich außerhalbs einer befinden, das wollte der Komponist John Cage. Er und 72 Kollegen haben sich Fragen von Balint Andras Varga geöffnet. Fazit: Avantgarde ist kein Zwang mehr.

Von WOLFGANG SCHREIBER

Kann man Musik mit Worten erklären - soll man es? Die Musikgeschichte ist voll von Sinndeutungen, Argumenten, Rechtfertigungen. Viele Dichter und Theoretiker haben sich daran versucht, Komponisten von Rameau bis Wolfgang Rihm. Der winkte irgendwann ab: Fast alle Programmheft-Texte zur Erklärung seiner Kompositionen habe er "widerwillig verfasst". Er glaube fest an "die genuine Unverständlichkeit und Unvereinbarkeit von Kunst". Und doch ist Rihm einer der produktivsten Musikerklärer, seine Texte füllten schon vor zwanzig Jahren zwei dicke Bände.

Aber es gibt eine andere Verständigung über Musik: Komponisten reden von sich und ihren musikalischen Erfahrungen. Rihm und Dutzende seiner Kollegen haben bei einem Langzeitprojekt mitgewirkt, das einer simplen Idee folgte und zu beachtlichen Ergebnissen führte - mit Selbstzeugnissen von dreiundsiebzig Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich willig der Frageprozedur unterzogen. Über Jahre hinweg hat der ungarische Musikwissenschaftler Bálint András Varga, bis 2007 Leiter der Promotion-Abteilung des Wiener Musikverlags Universal Edition, mit Komponisten und Avantgardisten jeder Couleur "dienstlich" zu tun gehabt. Ganz nebenbei stellte er ihnen drei kurze Fragen, deren Antworten er ab 1978 systematisch einsammelte und zum Buchprojekt verdichtete. Die Fragen, leicht verkürzt:

1. Hatten Sie ein Erlebnis, das Ihr musikalisches Denken veränderte?

2. Lassen Sie sich von Klängen Ihrer Umgebung beeinflussen?

3. Inwieweit kann man von einem persönlichen Stil sprechen und wo beginnt die Selbstwiederholung?

Im Vorwort spekuliert Varga über den Erkenntnisgewinn der Antworten. So könnten die Reaktionen auf die erste Frage bewusst machen, "in welchem Ausmaß Geschichte und Politik die Verbreitung musikbezogener Informationen" beeinflussen. Antworten auf die zweite müssten "viel über die Psychologie der Kreativität" ahnen lassen. Die dritte Frage habe mit seiner eigenen Verlagstätigkeit zu tun, damit, dass ihm bei den eingesandten Stücken oft Originalität gefehlt habe: "Ich vermisste die Überraschung, das unerhörte Element, über das ich mich dann bei jedem Anhören des Stücks aufs Neue gefreut hätte". Umso überraschender die Ergebnisse, mit all den persönlichen Bekenntnissen und Einsichten - Dokumenten der Selbstbespiegelung oder auch raffiniert begründeten Verweigerung derselben.

Die lapidarsten Antworten hatte, man ahnt es, John Cage zu bieten - Kürzel tiefgründiger Einfachheit des Klangdenkens. Auf die Frage nach der Umgebung nennt Cage "die Geräusche, die mich umgeben - das ist ,4'33'. Ich versuche das in meinem Werk nicht zu stören". Auf die dritte Frage meint er nur, er kümmere sich nicht "um einen persönlichen Stil", hoffe nur, sich selbst durch sein Werk zu verändern, "um meinen Geist für die Möglichkeiten zu öffnen, die sich außerhalb seiner befinden".

Ausführlicher reagierte Luigi Nono, dem die Musik der Renaissance und Beethovens am Anfang wichtig erschien, für den "die Unruhe eine große Quelle der Fantasie" war. Für Arvo Pärt ist "der Weg zur Vollkommenheit unendlich". So beobachtet er Selbstwiederholung dann, "wenn die Seele des Künstlers sich nicht mehr metaphysisch nach dieser Unendlichkeit sehnt". Sozial ernüchtert reagiert Hans Werner Henze - Selbstwiederholung setze ein, "wo ein Künstler sich zu ernst nimmt und seine paar Errungenschaften ritualisiert, wo seine Bescheidenheit aufhört, seine Neugier und seine Brauchbarkeit".

Ein Who's Who der internationalen Komponistenszene gestern und heute. Von Witold Lutoslawski, Ernst Krenek und Morton Feldman, die vor vielen Jahren starben, sind Antworten überliefert, auch von György Ligeti, Luciano Berio, Iannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen. György Kurtág, Sofia Gubaidulina, Dieter Schnebel und Pierre Boulez geben Einblicke in ihre künstlerischen Befindlichkeiten. Bei Steve Reich, dem Propheten der minimal music, löste Strawinskys "Sacre du printemps" das kreative Urerlebnis aus, danach gehörten Charlie Parker, Miles Davis und Bachs fünftes Brandenburgisches Konzert zu den Musiken, die "die grundlegende musikalische Energie geformt hatten, die noch heute in meinen eigenen Kompositionen wirkt".

Statt Lebensläufe hat der Autor "Musikporträts" den Antworttexten vorangestellt, diese mit den Komponisten diskutiert und deren Änderungswünsche eingearbeitet. So entstanden Dialoge, ausgiebige Interviews wie das mit Morton Feldman. Bei jüngeren Komponisten wie Jörg Widmann, Enno Poppe, George Benjamin oder Rebecca Saunders, die bekenntnishaft-ernst antworten, wird ganz anders gedacht als noch in den sechziger bis achtziger Jahren: "Die Zugehörigkeit zur Avantgarde ist kein Zwang mehr, keiner mehr muss beweisen, dass er sozusagen up to date ist."

Bálint András Varga: Drei Fragen an dreiundsiebzig Komponisten. Aus dem Englischen von Barbara Eckle. ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2014. 413 Seiten, 29,90 Euro

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SZ vom 31.03.2015
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