Komödie:Auf der Jagd nach dem weißen Fisch

Mit dem iPhone gefilmt: Sean Bakers Sundance-Hit "Tangerine L.A." ist ein hyperaktiver Fiebertraum mit zwei sagenhaften Transgender-Hauptdarstellerinnen.

Von Annett Scheffel

"Merry Christmas Eve, Bitch." Das sind die ersten Worte, die die beiden Transgender-Prostituierten Sin-Dee Rella und Alexandra miteinander wechseln. Nach einen Monat wurde Sin-Dee an diesem sonnendurchfluteten Weihnachtstag gerade aus dem Gefängnis entlassen. Zwei Dollar hat sie in der Tasche; einen investiert sie in einem Donut-Laden, mit ihrer besten Freundin will sie die frischgewonnene Freiheit feiern. Doch für Festtagsstimmung bleibt auf dem Strich in der heruntergekommenen Gegend Hollywoods wenig Zeit. Keine fünf Minuten verliert Regisseur Sean Baker, bis er seinen wunderbaren filmischen Höllenritt in Gang gesetzt und auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigt hat: Von ihrer Freundin erfährt Sin-Dee, dass ihr Freund und Zuhälter Chester sie betrogen hat - mit einer weißen und noch dazu "echten" Frau, mit einem "Fisch", wie das hier genannt wird, "mit Vagina und allem Drum und Dran". Wie wildgeworden jagt Sin-Dee los, hinaus auf die vor Hitze glühenden Straßen ihres Viertels, um die Nebenbuhlerin zu suchen.

"Tangerine L. A." ist ein hyperaktiver Film, der auf geradezu magische Weise immer beides zugleich ist: Milieustudie und Screwball-Komödie - das eine aber niemals zulasten des anderen. Und dann wäre da auch noch die Sache mit dem Smartphone: Bakers Film ist nämlich der erste komplett mit einem iPhone aufgenommene Kinofilm (gedreht wurde mithilfe einer Acht-Dollar-App und mit insgesamt gerade mal 100 000 Dollar Budget). Dieser technische Coup, der viel Aufmerksamkeit bekommen hat, ist nur gar nicht so furchtbar relevant - sehr verwackelt und grobkörnig, holprig und unangenehm voyeuristisch sieht der Film jedenfalls nicht aus.

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"Tangerine L.A." wurde mit dem iPhone gefilmt - man sieht es aber nicht.

(Foto: Kool)

Tatsächlich ist das Wundersamste an Bakers Indie-Komödie, die nun nach den Lobeshymnen auf dem Sundance-Festival auch die deutschen Kinosäle erreicht, dass er das Tempo der ersten Minuten bis zum Ende hält. Bis auf kurze Momente des Innehaltens schwebt über dem ganzen Film die Hysterie und emotionale Überhitzung eines Fieberwahns. Und stets leuchten die Bilder in schrillen, übersättigten Farben und scharfen Kontrasten, ein irrer Soundtrack aus EDM, Drum'n'Bass und Beethoven-Symphonie tobt darüber hinweg. Anstrengend wird das trotzdem nie. Vor allem weil Sin-Dees Odyssee durch die Straßen von einem herrlich rohen, schrägen Witz getragen wird. Den verdankt Baker seinen beiden sagenhaften Hauptdarstellerinnen: Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor - vulgär, smart, unnachahmlich selbstbewusst - fand er in der Transgender-Szene von L. A., in der sein Film nun auch spielt. Die Jagd nach dem "weißen Fisch" gestaltet sich mitunter absurd. Am Ende einer langen Reihe von Verwicklungen, Handgreiflichkeiten und Straßenstrich-Anekdoten wird sie die beiden Transfrauen wieder zurück in den Donut-Shop führen - samt Zuhälter Chester, der an den Haaren herangeschleiften Rivalin Dinah und dem befreundeten, armenischen Taxifahrer und Stammkunden Razmik.

Diese Handlung dient sie Sean Baker als Rahmen für ein durch und durch lustvolles Schattenwelt-Porträt. Er hat ein Auge für diesen Kosmos voller Außenseiter, ähnlich wie einst Lou Reed in "Walk on the Wild Side", dieser Hymne auf die Drag Queens, die aus dem prüden amerikanischen Hinterland in Warhols Factory flohen - mit dem feinen Unterschied, dass Bakers Einblicke nicht dunkelromantisch sind, wie bei Reed, sondern bunt und hektisch, laut und lebensbejahend: Auf dem Straßenstrich an der Kreuzung Santa Monica Boulevard und Highland Avenue, in versifften Motelzimmern voll schwitzender Freier, im Waschsalon, auf dem Walk of Fame oder in einer Lebensmittelausgabe für Obdachlose. Immer ist der Film alles zugleich: dokumentarisch, zartfühlend und bissig. "Kreditvergabe auch ohne Sicherheiten", liest man einmal vor einen Laden. Vielleicht ist "Tangerine L. A." am Ende sogar ein Film über ein ganzes Land geworden, das sich zwischen Freiheitstraum und Lebensrealität hin- und herwindet. Das Leben kann grausam sein, wie Sin-Dee einmal sagt, "warum sonst hat Gott mir einen Penis gegeben?" Aber man kann ihm, wie man hier sieht, immer noch eine fantastische Energie entgegensetzen.

Tangerine L. A., USA 2015 - Regie: Sean Baker. Buch: Sean Baker, Chris Bergoch. Kamera: Radium Cheung, Sean Baker. Schnitt: Sean Baker. Mit: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor. Kool Film, 87 Min.

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