Kommunikation im digitalen Zeitalter:Auf geht's in die Narzisphäre

Rio 2016 - Olympic Village

Welche Rolle spielt der Narzissmus in der digitalen Weltgesellschaft? Das Selfie-Ich in seinen eigenen Kulissen, Rio 2016.

(Foto: Michael Kappeler/dpa )

Macht das Smartphone uns alle zu Narzissten? Drei Bücher beschäftigen sich damit, wie die Digitalisierung die Persönlichkeit verändert.

Von Meredith Haaf

Wohin wendet man sich, wenn man sich selbst und die Menschen um einen herum nicht mehr versteht? Wo sucht die Verlorene nach Auswegen, der Traurige nach Trost, die Wütende nach Gleichgesinnten?

Die modernen Kommunikationsmedien stellen dem Menschen nicht nur eine Infrastruktur des sozialen Austauschs zur Verfügung, sondern sie generieren auch eigene Deutungsmuster für den Einzelnen und sein jeweiliges Umfeld. Das Verhältnis des Selbst zur digitalen Kommunikation ist längst zu einer der wichtigsten Herausforderungen im Leben des modernen Menschen geworden. Drei Neuerscheinungen stellen sich dieser Herausforderung, ohne in digitalbesessenes Palaver zu verfallen.

In einem schmalen Band beschäftigt sich die amerikanische Publizistin Kristin Dombek mit einem der derzeit verbreitetsten Deutungsmuster für zwischenmenschliches Verhalten. "Die Selbstsucht der anderen. Ein Essay über Narzissmus", so der Titel ihres Buchs, untersucht, wie sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts die Ansicht unter vielen Psychologen und anderen durchsetzen konnte, "dass eine Persönlichkeitsstörung ( ... ) die treffendste Beschreibung ist für die meisten von uns, dass sich also eine narzisstische Persönlichkeitsstörung gar nicht merklich von den Erwartungen eines kulturellen Kontexts unterscheidet, sondern genau das ist: unsere Kultur."

Narzissmus als publizistische Totschlagdiagnose unserer Zeit

Dombek widmet sich der Berichterstattung über die vor allem im Gesellschaftsjournalismus als besonders narzisstisch verschriene Generation der Millennials, sowie dem Diskurs über medienbewusste Massenmörder wie Anders Breivik. Sie erklärt die Begriffsgeschichte und die medizinischen Hintergründe einer diagnostizierbaren narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Narzissmus sei zu einer publizistischen Totschlagdiagnose unserer Zeit geworden, schreibt Dombek, als Ursache von allen nicht ganz leicht zu erklärenden Phänomenen wie die Kardashians und Anthony Weiner, exzessivem Selfie-Schießen, der Schuldenkrise oder der Schönheitschirurgie. Er habe sich darüber hinaus als diskursive Allzweckwaffe im Emo-Jargon unserer Zeit durchgesetzt.

Das, was sie "Narziphobie" nennt, präge eine ganze Generation in ihrem Beziehungsleben: Jedes Fehlverhalten mache einen heute schnell reif für die Narzissmus-Diagnose. So werde rücksichtloses oder in anderer Weise verwerfliches Verhalten rasch pathologisiert und zu einem Fall, der sich laut der umfangreichen Ratgeberliteratur nur durch Intervention oder die Kontaktsperre lösen lässt.

Die "Narzissmus-Epidemie" grassiert, man ahnt es, vor allem im Internet. In zahllosen Online-Foren und Blogs tauschen sich Betroffene über Narzissten (kurz Narcs) und über ihre Leidensgeschichten aus, die, so Dombek, immer "demselben Drehbuch" folgen. Dombek spricht von einer "Narzisphäre", in der sich insbesondere Frauen als Opfer und Männer als Täter tummelten. Die leidensbringende Tat sei dabei im Grunde immer die Unfähigkeit des anderen, die eigenen emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen und die daraus resultierende Abhängigkeit.

Diese Perspektive selbst kann man in vielen Fällen, wie Dombek es tut, als Akt mangelnder Empathie verstehen: "Die Selbstsucht der anderen ist das Gefühl unserer bloß gelegten Abhängigkeit, das sich in dem Moment einstellt, in dem sich der Blick von uns abwendet." Dem Narziphoben fehle die Erkenntnis, dass man selbst ein anderer ist. Dombek plädiert deshalb dafür, ein Bewusstsein für die je eigene und ganz universelle Verbundenheit mit den anderen zu entwickeln: "Ich schnippe eine Zigarette in eine Schneewehe und sie brennt ein glühendes Loch und verschwindet. Jetzt liegt sie hinter mir und vor jemand anderem."

Der kleine, subtile Horror, den das Eindringen der Technik in unser Leben verbreitet

Dombeks Buch zeigt, wie viel die Kommunikationsmedien über das moderne Selbst mitteilen können, wenn man sie nur richtig befragt. Es zeigt aber auch, wie unvermeidbar der Rekurs auf entweder den Kapitalismus oder das Netz oder am besten beides für aktuelle Selbsterklärungsversuche ist. Die Menschheit hat den vorläufigen Höhepunkt ihrer Verschränkung mit den Systemen von Daten- und Warentausch erreicht - sie kann sich nicht mehr ohne diese wahrnehmen.

Dieser anthropologischen Grundstimmung versuchen natürlich auch die erzählenden Künste gerecht zu werden. In den vergangenen Jahren hat es immer wieder auch Versuche gegeben, der Datengesellschaft literarisch beizukommen. Dazu gehörten beispielsweise die umfangreichen Romane von Jonathan Franzen ("Unschuld") und Dave Eggers ("Der Circle"), die jeweils versuchten, das Netz in all seinem dystopischen Schrecken darzustellen. Wirklich gelungen ist ihnen das eher nicht; schließlich liegt der fassliche Schrecken - wenn man denn von einem solchen sprechen will - der Digitalisierung des Alltags weniger in der Systematik des Ganzen als in dem kleinen, subtilen Horror, den das Eindringen der Technik in unser Leben verbreitet. Umso spannender sind zwei Bücher, die von diesem Wandel auf völlig unterschiedliche Weise erzählen.

Was am Internet eigentlich genau das Schlimme ist

Da wäre zunächst Jarett Kobeks "Ich hasse dieses Internet", keine große Erzählung, sondern eher eine Zusammenschau dessen, was am Internet eigentlich genau das Schlimme ist. Sein Vorwurf zielt auf zweierlei: dass "amerikanische Autoren nicht einmal halbwegs anständig über das Internet schreiben" können und dass jenes Internet "nichts anderes ist als intellektueller Feudalismus auf Basis von technischen Neuerungen, die als Kultur getarnt daherkommen."

Das Buch handelt von einer Gruppe kreativer Menschen in San Francisco, die durch das Internet Probleme bekommen: Eine Comiczeichnerin äußert sich bei einem Vortrag kritisch über Frauen in der Tech-Branche und wird Zielscheibe eines Shitstorms. Eine junge Frau findet Nacktfotos von sich im Netz. Ein Schriftsteller gerät in die Mühlen der Gentrifizierung.

Das alles ist extrem zeitgeistig, doch für den Roman ist das Schicksal der Protagonisten eher nebensächlich. Die Hauptrolle spielt eine kaum gebändigte Wut. Eine Kostprobe: "Als J. Karacehennem nach San Francisco zog, machte die Stadt gerade eine komplett wahnsinnige Phase durch. Die Schönheit der Stadt wog ihre nervigen Einwohner nicht mehr auf. ( ...) Gentrifizierung war das, was einer Stadt widerfuhr, wenn Menschen mit überschüssigem Kapital aus ihrem Kapital noch mehr Kapital schlagen wollten, ohne Arbeit ihren Wert beizumessen." Darauf folgt eine Erklärung des Begriffs "Deregulierung" und eine Liste der Präsidenten, die diese Politik zu verantworten haben.

Das Buch erschöpft, ohne mehr zu bieten als ein paar bittere Lacher

Der eingangs genannte Protagonist taucht erst etwa sechs Kapitel später wieder auf. Und überhaupt: Informationen werden hier nur fragmentiert geliefert, Personen drücken zwar ihre Gefühle aus, verfügen aber über kein inneres Erleben, Erzählungen brechen ab oder schweifen aus. Das Ganze liest sich wie eine perfekte literarische Reproduktion eines langen Abends im Internet - und ist deshalb eine relativ unangenehme Lektüreerfahrung. Das Buch ermüdet mit endlosen Aufzählungen und Subtexten und erschöpft, ohne mehr zu bieten als ein paar bittere Lacher. Und doch enthält es eine schmerzhafte Wahrheit, nämlich die, dass jeder, der das Internet für mehr als das Allernötigste gebraucht, sich täglich genau dieser trostlosen Erfahrung freiwillig aussetzt.

"Ich hasse dieses Internet" verleiht dem Satz "das muss man gelesen haben" eine neue Bedeutung: Man muss das Buch nicht gelesen haben, weil es so gut ist, sondern eher, weil es auf eine Weise schlecht ist, die bezeichnend ist für unsere Gegenwart.

In "Realitätsgewitter", dem neuen Buch von Julia Zange, trägt die Symbiose von Selbst und Smartphone dagegen zugleich beiläufigere und intensivere Züge. Zanges Debütroman "Die Anstalt der verlorenen Mädchen" erschien 2008 und erreichte einen gewissen Kultstatus.

Auch "Realitätsgewitter" handelt wieder von einer kleinen, blonden, verlorenen jungen Frau. In einem mühsam unterdrückten Zustand der Verzweiflung "tappst" diese Marla durch Berliner Kaufhäuser und Szenelokale. Sie unterhält oberflächliche Sexualbeziehungen zu diversen künstlerischen Typen, die allesamt direkt aus den Foren der Narzisphäre entsprungen sein könnten. Sie macht ein Praktikum bei einer Modezeitschrift, das sie nicht besonders interessiert. Und wenn sie ihr ganzes Geld mal wieder für Taxifahrten ausgegeben hat, klaut sie Toilettenreinigungskräften das Trinkgeld vom Teller.

Sie ist so einsam, dass sie ihr Smartphone vermenschlicht ("Eine Nachricht blinkt auf meinem iPhone, dessen Frontscheibe ganz zersprungen ist, womit es eine Art iPhone-Identität bekommen hat") - und sich selbst verdinglicht. Gerade aufgewacht, stellt sie fest: "Meine Gesichtserkennung funktioniert noch nicht richtig."

Marla schreibt, wenn sie nervös ist, wahllos Nachrichten an ihre mehr als tausend Kontakte und folgt jeder Facebook-Einladung bereitwillig, nur um nicht allein zu sein. Jede ihrer Stimmungen entlädt sich in einer Verlinkung oder einer Nachricht an einen potenziellen Sexualpartner. Andauernd entwickelt sie unangemessene Gefühle für andere, die nicht erwidert werden: "Ich würde mich gerne an die hübsche Texte-zur-Kunst-Redakteurin lehnen, traue mich aber nicht." Oder, im Fahrstuhl mit einem der Sexualpartner: "Ich fahre mit der Hand über seine abrasierten Haare und reibe meine Wange an seiner. ,What are you doing!' Ben macht einen Schritt zurück. ,Pervert.'"

Ohne Facebook wäre Marla vielleicht noch einsamer, sich aber ihrer Einsamkeit nicht andauernd so sehr bewusst

Julia Zange erzählt von dieser kleinen, trostlosen und nicht ganz durchschnittlich depressiven Berlin-Existenz mit größter Klarheit. Marla ist auch deshalb so abhängig von ihrem Telefon, weil es in ihrem Leben niemanden gibt, von dem sie sich eine Abhängigkeit erlaubt. Das wird klar in einer Szene mit ihrer Mutter. Diese verhält sich erst überschwänglich, dann kalt und desinteressiert und schließlich hasserfüllt der Tochter gegenüber. Eine weitere Figur, die direkt aus einem Narzissmus-Forum entstiegen sein könnte.

Dass Schlüsselszene und Schluss nach den sehr starken ersten zwei Dritteln literarisch nicht völlig überzeugen, ist schade. Julia Zanges Eltern haben versucht, eine einstweilige Verfügung gegen den Roman zu erwirken - so lässt sich die Narzisphäre auch in der realen Welt besichtigen. In jedem Fall gelingt Julia Zange etwas, das man noch nicht oft lesen konnte: eine literarische Darstellung der Widersprüche, in die sich das vernetzte Selbst verstrickt hat.

Ohne Facebook wäre Marla vielleicht noch einsamer, sich aber ihrer Einsamkeit nicht andauernd so sehr bewusst. Ohne das, was sie den ganzen Tag liest, wüsste sie selbst nicht mehr, wer oder was sie eigentlich ist, hätte aber noch eher eine Chance, ihr Leben zu durchschauen. Marla, die so sehr darunter leidet, dass niemand bei ihr bleibt, ist die personifizierte Selbstsucht - und sie ist damit so wie alle anderen, verwachsen mit der Welt und doch komplett isoliert.

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