Kommerzialisierung des Jazz:CDs für 500 Euro

Altersarmut, sinkende Plattenverkäufe, Desinteresse der Labels, Poptrash: Trotzdem könnte der Jazz überleben. Dafür müssen aber sowohl die Künstler als auch ihr Publikum ihre Einstellung überdenken.

Karl Lippegaus

Auf dem Höhepunkt der Beatlemania 1970 war der Jazzsaxophonist Paul Jeffrey zu Besuch bei Thelonious Monk. Auf dem Klavier erblickte er staunend ein Songbook der Beatles. Der "Hohepriester des Bop", wie ihn ein Teil der Presse nannte, erklärte Jeffrey, seine Plattenfirma Columbia wolle ein Album mit Beatles-Songs. Was Monk noch mehr schockiert hatte, war, dass die Firma ihm jemand ins Haus schicken wollte, der die Songs für ihn transkribieren sollte. Als ob er dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Ein paar Monate später entließ Columbia den Pianisten wegen stark rückläufiger Plattenverkäufe in aller Stille aus dem Vertrag.

Ein paar Jahre vorher hatte Thelonious einen Wutanfall bekommen, als er entdeckte, dass seine Tochter Barbara ("Boo Boo") eine Single der Beatles besaß. Er hatte daraufhin das ganze Apartment durchwühlt, um sie zu vernichten. Nicht alle großen Jazzer grenzten sich so konsequent von den Popstars ab. Sogar Count Basie und Duke Ellington scheuten sich nicht, an Tiefpunkten ihrer Karriere Beatles-Songs nachzuspielen. Ella Fitzgerald nahm Nummern aus dem Pop-Musical "Hair" in ihr Repertoire auf.

Mag sein, dass Jazzmusiker aus allem alles machen können, aber derzeit beschleicht einen der Eindruck: tiefer geht's nimmer. Da ist zum Beispiel Jens Thomas, Jahrgang 1970, ein Pianist und Träger des SWR-Jazzpreises 2000, der an den Musikhochschulen in Hamburg und Berlin unterrichtet hat. "Wo es bei anderen dunkel oder trüb ist, scheint ihm ein Licht", schrieb Die Zeit. Seine neue CD "Speed of Grace" (Act) ist eine total private, verunglückte Hommage an AC/DC. Das "Tribute" ist wohl ein Versuch, sich etwas vom riesigen Kuchen der mehr als 200 Millionen verkauften Alben abzuschneiden. Thomas' Gesangskünste sind mehr als bescheiden und sein verkitschter Dachkammerjazz vermurkst das australische Schwermetall zur Unkenntlichkeit.

Oder nehmen wir die brandneue Version des Police-Hits "Message In A Bottle" mit der Sängerin Youn Sun Nah (Echo Jazz 2011 als "beste internationale Sängerin") auf "Vagabond", dem neuen Album des Gitarristen Ulf Wakenius. Die Anbiederung an den Pop-Mainstream gebiert immer neue, noch groteskere Resultate. Jens Thomas hat mal eine schöne Morricone-Platte gemacht. Dessen "Mann mit der Mundharmonika" ehrt nun auf völlig andere, herrlich bizarre und wilde Art der österreichische Perkussionist Alfred Vogel ("Vogelperspektive Vol. 1", Boomslang).

Aussterbende aber schützenswerte Kunst

Erfrischend auch das raue Pariser Kollektiv Radiation 10, das gerade sein Debütalbum vorgelegt hat und zeigt, dass nicht alles, was vom Konservatorium kommt, austauschbar klingen muss. Nach einem Besuch des Berliner Jazzfestes 2011 fand ein Besucher: "Es ist schrecklich, auf diese Festivals zu gehen und zu konstatieren, dass es eigentlich keinen Point of Reference mehr gibt: Dass ein eher barpianistisch ausgerichteter Finne einen Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen kann, ist nicht mehr nachvollziehbar."

In Berlin hatte der scheidende künstlerische Direktor Nils Landgren erklärt, der Jazz sei eine aussterbende Kunst, die es zu schützen gelte. Das sieht der Trompeter Enrico Rava, Italiens bekanntester Jazzmusiker, anders. Nachdem er sein Quintett mit jungen Talenten fast komplett neu formiert hat, gelang dem 72-jährigen Rava ein Volltreffer ("Tribe", ECM). "Es ist absoluter Unsinn zu sagen, der Jazz müsse 'beschützt' werden. Der Jazz braucht das nicht, er beschützt sich selbst. Junge Leute aus meiner Band wie Gianluca Petrella und Giovanni Guidi haben große Lust zu spielen. Wenn du diese Lust nicht mehr verspürst, wird es auch zwecklos sein, den Jazz zu schützen, dann braucht man ihn nicht mehr."

Überall auf der Welt, sagt Rava, vor allem in New York, gebe es talentierte Leute, die mit Anfang 20 täglich unglaubliche Dinge erfänden. Jenseits des Mainstreams bewegt sich einer seiner Favoriten, der Trompeter Ambrose Akinmusire. Dessen Mentor Steve Coleman hatte Akinmusire den guten Rat gegeben: "Alles was du nicht liebst - stell' klar, dass es nicht dein Spiel verwässerst." In New York haben Jazzmusiker fünf Jahre lang versucht, einen Pensionsanspruch durchzusetzen. Wer nicht Mitglied der Gewerkschaft Local 802 ist, bekommt offiziell seit Jahrzehnten weniger Gage.

Einige Clubbesitzer der Stadt ignorieren seit Jahren beharrlich eine Zusammenarbeit mit Local 802 und erklären, die betroffenen Musiker bekämen Extrazahlungen, was sich nur schwer kontrollieren lässt; eine Sonderregelung sollte es nach ihrer Meinung keinesfalls geben. Der Gewerkschaft war es noch nie gelungen, eine dauerhafte Regelung mit den Clubs festzuklopfen, die auch damit argumentieren, diese beträfe vor allem alte und inaktive Musiker.

Jazz-Clubs fürchten um ihre Wirtschaftlichkeit

Lorraine Gordon, die Besitzerin des altehrwürdigen "Village Vanguard", sagte der New York Times, sie sei generell für eine Neuregelung offen, befürchte aber, bei den allgemein gestiegenen Kosten ihren Club nicht mehr funktionsfähig halten zu können. Die Besitzer des "Blue Note" äußerten sich bisher nicht zu den Anfragen der Musiker; andere Clubs schlugen vor, die Bandleader sollten als Arbeitgeber für ihre Bandmitglieder Geld in einen Pensionsfonds einzahlen. Eine dauerhafte Regelung scheint in weiter Ferne zu sein, obwohl die Gewerkschaft jetzt versucht, ein Netzwerk von Clubs in New York und anderen amerikanischen Städten aufzubauen, die mit Local 802 in puncto Pensionsfonds zusammenarbeiten.

Dass Armut im Alter bei Jazzmusikern besonders verbreitet ist, macht eine Neuregelung dringlicher denn je. Dass die Verkäufe von Jazzplatten seit Jahren im freien Fall sind, weiß jeder. Aber so schlimm wie in diesem Jahr hat es die Firmen nie erwischt. In den Clubs kann man großartige Musiker erleben - neben zehn, fünfzehn Gleichgesinnten. Das Jazzpublikum in Deutschland ist älter als sonstwo auf der Welt. Der Wuppertaler Saxophonist Peter Brötzmann tourte gerade mit einem Trio drei Wochen lang durch China. "Dort hatte ich mehr Auftritte als in Deutschland in einem ganzen Jahr."

Selbst diejenigen, die noch darauf hofften, betuchte Inder oder Brasilianer würden jetzt Keith-Jarrett-Platten en masse kaufen, sehen ihre hohen Erwartungen deutlich gedämpft. Neulich schlug bei einer Vertreterversammlung ein Coach vor, CDs nur noch für 500 Euro pro Stück anzubieten oder zu verschenken. Bitte was? Branchenriesen wie Saturn haben ihre einst üppig bestückte Jazzabteilung auf weniger als ein Drittel der früheren Verkaufsfläche reduziert und legen zehn leere Hüllen unter drei oder vier Neuheiten, damit's nach etwas mehr aussieht.

Häppchenkultur statt Innovation

Und was wäre, wenn es bald gar keine Plattenläden mehr gibt? Wenn CDs und ein paar LPs nur noch als museale Objekte ausgestellt werden? Kein 20-Jähriger versteht heute mehr seinen 45-jährigen Vater, der noch zu "Optimal" in München pilgert, zu "a-musik" in Köln oder dem "Vinylladen" in Heidelberg. Konzerne wie Universal blockieren den Markt für neue Produktionen mit zweit- und drittklassigen Reissues (Wiederveröffentlichungen) und erfinden "My Jazz"-Serien mit abenteuerlichen Namen wie "Durchatmen", "Jazz Macchiato" und "Romantic Gentlemen".

Diese Häppchenkultur prägt leider auch das Jazzangebot vieler Radiosender. Vor allem, seit der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seinen Magazinen mit Fusionjazz oder Hardbop-Exzerpten die Lücke zwischen zwei Beiträgen stopft. In Kürze rollt wieder eine riesige Welle von Fusion-Produktionen der 70er und 80er Jahre auf uns zu. Werden wir die bösen Geister von einst nie mehr los? Wirklich innovativer Jazz aus dem Ausland wird von den wenigen Importeuren, die es noch gibt, zu 95 Prozent nicht mehr angeboten und ist nur noch zu hohen Preisen im Netz erhältlich. So teuer wie früher die edlen Japan-Pressungen für Besserverdienende.

Winter & Winter verkaufen ihre CD-Covers jetzt mit dem Aufdruck "Limited-Deluxe-Hardcover-Edition". Die "größten Balladen aller Zeiten", der "ganze" Miles Davis auf 25 CDs, oder wie wär's mit der 100-CD-Box "The Story of Modern Jazz"? Wer drauf reingefallen ist und mal genauer hinhört, entdeckt oft miserable Raubpressungen. Aber wo kein Kläger, da auch kein Richter. Jeder weiß natürlich, dass der Jazz ein Riesen-Tummelplatz der Tonpiraten ist.

aren das Zeiten, als Sue Mingus, die Witwe des Bassisten Charles Mingus, die Plattenläden in aller Welt abklapperte, um Bootlegs aufzukaufen, nach den Herstellern fahndete und Klage erhob. Oder als die Brecker Brothers nach einem Gig im Kölner Stadtgarten wutschnaubend entdeckten, dass draußen vor der Tür illegale Mitschnitte ihrer Konzerte für teures Geld feilgeboten wurden. Oder als der Gitarrist von Last Exit, Sonny Sharrock, einem deutschen Bootlegger drohte, ihm mit einer Rasierklinge die Kehle aufzuschlitzen.

Ein seltsames Gefühl beschlich uns neulich in Paris in der Jazzabteilung des FNAC. Da war fast niemand, nebenan wurden nur Bücher und DVDs gekauft. Plötzlich über die Hausanlage eine wunderschöne Ballade von Coltrane, "Nancy (With The Laughing Face)". Gleich kam eine junge Frau und fragte den Verkäufer, was das sei. Voilà. "Keine Ahnung, wie lange es überhaupt noch Platten geben wird", sagt Enrico Rava noch vor seinem grandiosen Konzert beim Enjoy Jazz Festival in Mannheim am 13. November dieses Jahres. Stimmt - aber live hat sein Jazz nichts von der ursprünglichen Faszination eingebüßt. Ravas 2011 in Italien erschienene Autobiographie heißt: "Begegnungen mit außergewöhnlichen Musikern - Die Story meines Jazz". Demnächst wird auch er uns mit einer Hommage beglücken: Sein großes Idol heißt Michael Jackson. Aber wie sagte schon Robert Walser: "Nur Befürchtungen sind zu befürchten."

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