Süddeutsche Zeitung

Sarrazins Buch als Topseller:Eine deutsche Gegenwartsbefindlichkeit namens Selbstmitleid

Thilo Sarrazins neues Buch führt vor Hitlers "Mein Kampf" die Bestsellerliste. Der Versuchung, Gemeinsamkeiten zwischen den Autoren auszuloten, sollte man allerdings widerstehen.

Kommentar von Joachim Käppner

Thilo Sarrazin hält Kritikern gern entgegen, sie hätten seine Bücher nicht gelesen. Haben sie das aber doch getan, sagt er: Dann haben Sie die Bücher eben nicht verstanden. Das könnte auch daran liegen, dass man vieles, was Thilo Sarrazin schreibt, gar nicht verstehen kann.

Sein neuestes Werk, eine Variation in Moll über den Untergang Deutschlands, das offenbar nur Narren für einen der wohlhabendsten, stabilsten und demokratischsten Staaten der Welt halten, steht jedenfalls auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste, was beweist, dass sich die Kunst, das eigene Land so schlecht wie irgend möglich zu reden, in ein Geschäftsmodell verwandeln lässt.

Auf Platz 2 folgt "Mein Kampf". Und so gruselig dieses Spitzenduo anmutet, so sei jeder Versuchung widerstanden, Gemeinsamkeiten zwischen den Autoren auszuloten. Sarrazin ist kein Nazi, wie manche behauptet haben, sondern der erfolgreichste und zugleich seltsamste Vertreter einer rechtskonservativen deutschen Gegenwartsbefindlichkeit namens Selbstmitleid.

"Mein Kampf" wiederum, in der neuen kritischen Edition des Instituts für Zeitgeschichte, ist nicht einfach das 1924 verfasste Gesinnungswerk des späteren "Führers". Wenn Holocaust-Überlebende wie Charlotte Knobloch es unerträglich finden, dass Hitlers Buch nun auf einer Bestsellerliste auftaucht, muss man davor jeden Respekt haben.

Hitler als Topseller?

Dennoch ist genau dieses kommentierte, wissenschaftlich auf hohem Niveau edierte Buch wirklich eher ein Gegengift und nicht das Gift selbst. Es erklärt, was Adolf Hitler dachte, wie seine Gedanken Politik wurden und seine Politik Terror und Mord. Es widerlegt die spätere Selbstabsolution weiter Teile der Gesellschaft im NS-Staat, man habe nicht wissen können, was "die Nazis" vorhatten. Holocaust, Vernichtungskrieg, Terror: Es stand alles schon dort; man verstand es, wenn man es verstehen wollte.

Diese Edition soll, wie Institutsdirektor Andreas Wirsching sagt, eine "Gegenrede sein zu diesem Konvolut der Unmenschlichkeit", Hitlers Text durch Kommentare und historischen Fachverstand "umzingeln". Weil das exemplarisch gelungen ist und das Verbot des Originals in der Bundesrepublik aus rechtlichen Gründen 2015 ohnehin auslief, ist diese Ausgabe die beste denkbare Lösung. Wer weiß, welche trüben Neuausgaben es sonst gegeben hätte?

Das Original war zwar verboten. Es steht indes, einst in mehr als zwölf Millionen Exemplaren gedruckt, noch verstaubt in Hunderttausenden privaten Bücherschränken und ist in wissenschaftlichen Buchbeständen einsehbar, vom Internet ganz zu schweigen.

Das Institut hatte das Interesse gewaltig unterschätzt und viel zu wenige Exemplare drucken lassen. Hitler als Topseller? Die hohe Nachfrage erklärt sich durch Bibliotheken und Fachinstitute im In- und Ausland, aber auch durch interessierte Leser, die hier lernen können, wie sorgsam die Demokratie gegen eine Ideologie des Hasses bewahrt werden muss, ein auch heute leider aktuelles Thema. Und der Historiker Wirsching hat recht, wenn er sagt: "Mit unserer Ausgabe wird ein Rechtsradikaler keinen Spaß haben."

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SZ vom 30.04.2016/kjan
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