Kommentar:Gedränge im Gesinnungskorridor

Viele Deutsche glauben, ihre Meinung in der Öffentlichkeit nur mit großer Vorsicht äußern zu können. Woher diese Unsicherheit, diese Furcht?

Von Felix Stephan

Eine repräsentative Allensbach-Umfrage im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat soeben ergeben, dass 41 Prozent der Deutschen die sogenannte "Political Correctness" für übertrieben halten. Nur 18 Prozent glauben demnach, in der Öffentlichkeit frei reden zu können. Die wichtigere Zahl aber ist eine andere: 59 Prozent gaben an, sie könnten im privaten Kreis unbefangen sprechen.

Das bedeutet, dass sich fast zwei Drittel der Deutschen in einem sozialen Umfeld befinden, das es ihnen erlaubt, sich angstfrei ihrem Gegenüber zu öffnen, ganz gleich, was sie sagen. Das ist eine frühkindliche Behaglichkeit, die im Leben eines erwachsenen Menschen eigentlich kaum mehr vorkommt, ein paradiesischer Zustand. Dass fast zwei Drittel der Deutschen von sich behaupten können, solche Freunde zu haben, deutet darauf hin, dass wir in einem glücklichen Land leben. Die Deutschen haben offenbar gelernt, miteinander zu reden. Feminismus, globale Erwärmung, Nationalismus, Überwachung, Umverteilung: Im Kreis der Freunde und Familie kann bei der deutlichen Mehrheit der Deutschen alles offen besprochen werden.

Jeder wird gehört. Wann ist das je so gewesen? Andererseits wird die Tatsache, dass man in der Öffentlichkeit nicht einfach alles sagen kann, ohne möglicherweise auf Widerstand zu treffen, von vielen als Belastung empfunden. Auch das ist erst einmal verständlich. Seit dreihundert Jahren handelt jeder Bildungsroman davon, dass sich das Subjekt an der Gesellschaft stößt und einen Prozess der Selbstidentifizierung durchläuft, an dessen Ende er oder sie zur Person wird. Die Welt ist voll von Leuten, die die Dinge anders sehen und vielleicht auch nicht bereit sind, nachsichtig mit einem umzugehen. Diesen Daseinszustand nennt man Gesellschaft. Die Akzeptanz für den Stress, der damit einhergeht, sinkt aber offenbar. Immer weniger Deutsche sind der Allensbach-Umfrage zufolge bereit, sich diesem Zustand, ohne den die freie Gesellschaft nicht denkbar ist, auszusetzen.

Dem Individuum geht es in der Therapiegesellschaft also besser denn je. Das Verständnis dafür, dass es außerhalb des eigenen Umfeldes aber andere Ansichten gibt, dass auch heute noch klassische Interessenskonflikte ausgehandelt werden müssen, schwindet. 57 Prozent der Befragten gaben an, es gehe ihnen "auf die Nerven, dass einem immer mehr vorgeschrieben wird, was man sagen darf und wie man sich zu verhalten hat". Das suggeriert, es obliege einer klandestinen Minderheit, diese Vorschriften aufzustellen. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Gesellschaft pluralistischer geworden ist und es eben mehr Gruppen gibt, die sich in den Diskurs einschalten. Widerspruch können nur jene Meinungen erregen, die auch öffentlich geäußert werden.

Möglicherweise ist in diesem Sinne nicht der Gesinnungskorridor enger geworden, wie Uwe Tellkamp sagen würde, sondern die Bandbreite der zur Diskussion gestellten Meinungen größer. Dass der "Negerkönig" bei Astrid Lindgren vor zwanzig Jahren noch keinen Anstoß erregte, lag vor allem daran, dass es weniger afrodeutsche Eltern gab, die ihren Kindern "Pippi Langstrumpf" vorlesen wollten. Und dass deutsche Fußballnationalspieler keinen Anstoß erregten, weil sie sich mit autoritären Politkern fotografieren ließen, lag daran, dass sich die Loyalitätsfrage in einer homogenen Gesellschaft nicht stellte. Als der Wehrmachtsheld Hans-Ulrich Rudel die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1978 in der Kabine besuchte, blieben die Proteste jedenfalls aus. Dass das heute nicht mehr durchgewinkt und beschwiegen würde, ist kein Zeichen einer schwindenden Meinungsfreiheit, sondern einer funktionierenden Gesellschaft.

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