Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Die chinesische Lauer

China gilt als der große Allesüberwacher. Dabei verfolgen gerade westliche Konzerne ihre Nutzer im Internet auf Schritt und Tritt. Der Gesetzgeber muss dringend gegen die klammheimliche Überwachung tätig werden.

Von Andrian Kreye

Derzeit häufen sich die Nachrichten aus der Überwachungsindustrie. Die EU will die Daten von Bahn-, Bus- und Schiffsreisenden sammeln und an Sicherheitsbehörden übermitteln. Die Carnegie Mellon University veröffentlichte eine Studie, bei der die Untersuchung von 22 484 Pornowebseiten ergab, dass 93 Prozent dieser Betriebe Daten an Dritte weitergeben, wobei vor allem Google und Facebook mit sogenannten "Trackers" das Verhalten auf diesen Seiten auswerten. Dann war da noch ein Bericht im Guardian, der ein altes Gerücht bestätigt. Demnach hören bei den virtuellen Assistenten von Google (Google Home) und Amazon (Alexa) nicht nur die Algorithmen mit, sondern auch Ingenieure und die Mitarbeiter von Dienstleistern aller Art.

Schon einen Monat alt ist wiederum der Bericht der New York Times darüber, wie Supermärkte, Handelsketten, Nahverkehrs- und Unterhaltungsbetriebe über sogenannte "beacons" die Signale von Handys anzapfen, um jede noch so kleine Bewegung der Kunden und Besucher zu erfassen und auszuwerten.

Man kann noch die Panikmeldung dazunehmen, dass eine derzeit sehr erfolgreiche App, mit der man Porträtbilder lustig verfremden kann, aus Russland kommt und ebenfalls Daten absaugt. Zu Beginn des US-Wahlkampfes! Das FBI ermittelt. Es gibt allerdings schon Entwarnung, dass nur das hochgeladene Bild, nicht ganze Bildspeicher übermittelt werden. Auch wenn die Entwarnung wie eine Warnung klingt.

Man sollte dann noch erwähnen, dass Superunternehmer Elon Musk am Dienstag sein Projekt Neuralink erstmals im Detail vorstellen ließ. Demnach werden nähmaschinenartige Roboter ultradünne Fädchen in menschliche Hirne einweben, die dann über einen Chip auf der Schädeloberfläche dazu dienen werden, Rechner oder Roboter mit der reinen Kraft der Gedanken zu steuern. Bei Versuchstieren funktioniert das schon. Für Menschen ist Neuralink noch nicht zugelassen. Ziel sind zunächst einmal Steuerungselemente für Prothesen. Aber hinter jeder medizinischen Entwicklung steckt in der digitalen Welt immer ein ganzer Kosmos der Möglichkeiten. Das Abgreifen neurologischer Daten (also Gedanken) an ihrer Quelle (den Neuronen) macht einem da schon Sorgen.

Die Rundumüberwachung geschieht in demokratischen Staaten klammheimlich

In Summe sind diese Nachrichten der perfekte Stoff für Verschwörungstheorien oder Science-Fiction-Romane. (Die Grenzen der beiden Genres sind sowieso fließend.) Sie laufen aber vor allem auf die Bestätigung zu, dass die "Daten sind das neue Öl"-Mentalität der Zukunftsindustrien immer neue Plateaus erreicht.

Nun wäre die Schlussfolgerung, dass die Empörung über die chinesischen Bewertungssysteme - die mittels Sensoren und künstlicher Intelligenz Bürgern einen Wert zuschreiben, der darüber entscheidet, welche Reisefreiheit, Kreditwürdigkeit, welche Ausbildungs- und Berufswege ihr oder ihm zustehen - reine Heuchelei ist. Doch chinesische Bürger werden vom Staat in ein allumfassendes System gezwungen. Westlichen Nutzern bleibt immer noch ein wenig Restfreiheit. In China wird das System von einer Mehrheit akzeptiert. In Amerika und Europa gibt es den Techlash, der auch schon die Gesetzgeber-Ebene erreicht hat.

Und doch sind die Parallelen frappant. Denn auch im Westen werden die Daten der Einzelnen in Bewertungssysteme eingespeist. Im amerikanischen Kreditwesen hat man beispielsweise errechnet, dass ein Nutzer, der sich in den sozialen Medien für elektrische Gitarren interessiert, nicht so kreditwürdig ist. Welches kranke Fünfzigerjahrehirn diese sozialdarwinistischen Parameter aufgestellt hat, kann man nur ahnen.

Noch einen Unterschied gibt es allerdings. In China ist die Überwachung offensiv und mit Ansage. Jeder weiß, dass die KI an jeder Ecke lauert, egal ob im Netz oder auf der Straße. In den demokratischen Staaten geschieht die Rundumüberwachung klammheimlich. Das aber macht es schwierig, den Hebel anzusetzen, der in einer Demokratie als Notwehrmittel bleibt. Es ist enorm schwierig, Gesetze zu initiieren und durchzusetzen, wenn eine ganze Industrie so heimlich tut wie ein Geheimdienst.

Was macht eigentlich Ed Snowden?

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Quelle:
SZ vom 20.07.2019
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