Kommentar:Das Schicksal der Künstler

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Russische Repressionen: Die Welle der Solidarität mit Oleg Senzow hat die Grenzen Russlands längst verlassen, aber noch immer nicht den kleinsten Effekt.

Von Sonja Zekri

Kurz vor seiner Verhaftung schrieb der ukrainische Regisseur Oleg Senzow noch ein Stück fertig, "Die Nummern", eine "Groteske" im Skifahrer-Milieu, in der alle Personen die Namen von Zahlen tragen, eiserne Regeln herrschen, die viel mit "gerade" und "ungerade" zu tun haben und der gottgleiche Herrscher über allem die "Null" ist. Die dauerhaft widerspenstige russische Gruppe "Teatr.doc" brachte in Moskau eine Lesung auf die Bühne, als Senzow schon in Untersuchungshaft war, das Online-Magazin "Colta.ru" veröffentlichte Auszüge. Dreieinhalb Jahre später, während Oleg Senzow im Straflager "Eisbär" am Polarkreis nach drei Monaten Hungerstreik und 40 Kilo Gewichtsverlust dem Tod näher ist als dem Leben und der russische Staat die Kosten für Senzows medizinische Betreuung mit Tropf und Vitaminpräparaten vorrechnet - 600 Euro im Monat -, hat die Welle der Solidarität die Grenzen Russlands längst verlassen, aber noch immer nicht den kleinsten Effekt.

Die Weltmeisterschaft in Russland war verstrichen, ohne dass die Welt und die russischen Freunde sein Schicksal hätten wenden können. Nach dem Europarat, dem G-7-Gipfel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron baten jüngst erneut Künstler und Kollegen in einer Petition um Senzows Freilassung, darunter Jean-Luc Godard, Constantin Costa-Gavras und Ken Loach. An diesem Wochenende könnte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Versuch unternehmen. Sie trifft den russischen Präsidenten Putin am Samstagabend. Aus der Ukraine wird sie gedrängt, den Fall Senzow anzusprechen - als würde es dessen bedürfen.

Die russische Haltung zu Senzow ist abwiegelnd, ausweichend oder bretthart - wie auch im Fall des Regisseurs Kirill Serebrennikow, dessen Hausarrest nach einem Jahr wegen des Verdachts der Veruntreuung gerade um einen Monat verlängert wurde. Die russische Haltung - und die Haltung vieler Russen - lautet so: Die Justiz ist unabhängig, es gibt einen Anfangsverdacht, Künstler stehen nicht über dem Gesetz, und wenn einer wie Senzow einen Hungerstreik beginnt und ihn wegen übertriebener Forderungen nicht beenden will, dann hat er Pech gehabt.

Eines immerhin stimmt: Die Eskalation war Senzows bewusste Strategie. Senzow wurde 2014 vom russischen Geheimdienst FSB auf der annektierten Krim festgenommen und von einem russischen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er Terrorakte geplant haben soll - was er bestreitet. Mit seinem Hungerstreik will er die Freilassung aller 70 politischen ukrainischen Gefangenen in Russland erreichen. Eine Begnadigung lehnt er ab, den Abbruch des Hungerstreiks ebenfalls. Der Tod ist für ihn, nach allem, was man hört, eine reale Option.

Senzow, der spielsüchtig war und seinen Debütfilm "Gamer" über einen Computerspieler drehte, ist ein deutlich kompromissloserer Charakter als Kirill Serebrennikow, der mit seinen fröhlichen, knallbunten, oft sehr schwulen Inszenierungen das Publikum in Moskau, Stuttgart oder Berlin verzauberte und direkte politische Aussagen mied. Und doch werfen beide Fälle dieselben Fragen auf: Wann wächst eine Generation von Künstlern in Russland ohne derartige Ohnmachtserfahrungen heran? Wer versöhnt den Kreml mit der Kunst? Was ist jetzt zu tun?

Ein praktikabler Vorschlag kam unlängst aus der Ukraine: Dort baten russische Gefangene um einen Austausch gegen Senzow und seine ukrainischen Mitgefangenen. In Senzows Stück "Die Nummern" bringt die Liebe einer Zahl zur anderen die böse "Null" in Bedrängnis. Solange wenig Aussicht auf eine so märchenhafte Lösung besteht, ist der diplomatische Basar die geeignete Bühne.

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