Komische Oper:Träume aus dem Kinderzimmer

Die Gruppe "1927" hat fantastische Effekte auf Lager, wenn es darum geht, Stücke von Strawinsky und Ravel filmisch zu animieren. Noch plastischer bleibt allerdings die Musik.

Von Julia Spinola

So etwas hat man tatsächlich auf der Opernbühne noch nicht gesehen: Eingebunden in ein überbordendes Anime-Fantasy-Filmspektakel scheinen die Darsteller zu rennen, durch die Luft zu fliegen, Kettenkarussell zu fahren oder mit allerlei gezeichneten Riesenmonstern zu kämpfen. Wenn Igor Strawinskys "Petruschka"-Puppe als Buster-Keaton-Gestalt im schwarz-weiß-gezeichneten Gefängnis von der schönen Ballerina Ptitschka träumt, vollführt die Akrobatin Pauliina Räsänen hoch oben in der gemalten Denkblase höchst leibhaftig grazile Luftkunststücke in einem Reifen. Später schubsen zwei überdimensionierte Bilderbuchkatzen das Kind aus Maurice Ravels "L'enfant et les sortilèges" mit ihren Pfoten von der Leinwand aus über die Bühne wie eine Maus. Die Effekte dieser Doppelpremiere mit den nicht alle Tage zu sehenden Werken von Strawinsky und Ravel sind verblüffend.

"1927" nennt sich die 2005 gegründete britische Theatertruppe um den Animationskünstler Paul Barritt und die Performerinnen Suzanne Andrade und Esme Appleton, die diese Effekte kreiert hat, weil das Jahr 1927 den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm markiert. Die Mischung aus Live-Aufführung, Musik und Filmtechnik, die "1927" realisiert, orientiert sich an der Ästhetik des Stummfilms und nutzt dabei zugleich die neuesten technischen Mittel der computergesteuerten Animation.

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Oper mit Pixar-Effekt: Die Dinge und Tiere gewinnen ein erschreckendes Eigenleben in Maurice Ravels "L'enfant et les sortilèges".

(Foto: Komische Oper Berlin/Iko Freese)

Der Intendant der Komischen Oper Berlin Barrie Kosky hat ein Faible für die Unterhaltungskunst der "Goldenen Zwanziger" und zudem ein sicheres Gespür für die Bedürfnisse des Publikums. Als er "1927" vor ein paar Jahren an seinem Haus mit der "Zauberflöte" zu einer ersten gemeinsamen Opernproduktion überredete, wurde dieses Mozart-Spektakel sofort ein Renner. Mit ihren pittoresk gezeichneten Stummfilm-Dialogen zur Hammerklavierbegleitung ist die Produktion nach einem Triumphzug um die Welt - über 240 Vorstellungen von Shanghai bis Barcelona - nun im Zuge des neuen Strawinsky-Ravel-Doppelabends wieder an die Komische Oper zurückgekehrt. Zu sehen ist ein furchteinflößendes Königin-der-Nacht-Spinnenmonster, eine wie der Stummfilmstar Louise Brooks aussehende Pamina, ein geschniegelter Operettentenor als Tamino und Sarastro, der gigantische Hundeschatten auf das Paar hetzt wie in einer Laterna-Magica-Projektion.

Das Versprechen, das "1927" gibt, zielt auf das Eintauchen in Fantasiewelten, um das Publikum im Theater wieder zu das Staunen zu lehren - staunen wie die Kinder. Tatsächlich hat die Musik von allen Künsten die stärkste Affinität zur Sphäre des Traums und zu den verschütteten Erfahrungswelten der Kindheit. In dieser Durchlässigkeit, in der die widersprüchlichsten Ausdrucksmomente gleichzeitig aufscheinen können, liegen ihr Glück, ihr Abgrund, ihr Subversives und ihre Utopie. Welche Werke böten sich für das Konzept einer live-befeuerten Anime-Ästhetik, wie "1927" sie pflegt, besser an als solche, in denen es um die wundersame Belebung der toten Materie geht? In Strawinskys "Petruschka"-Ballett erwachen die Puppen eines Jahrmarktgauklers zum Leben, in Ravels Kurzoper sind es unter anderem die Möbel eines Kinderzimmers, die zu spuken beginnen.

So erstaunlich die Effekte sind, an die Vielschichtigkeit der Musik reichen sie nicht heran

Doch das Versprechen wird nicht gehalten. Die Effekte bleiben vordergründig. Sie reichen an die Vielschichtigkeit der Musik nicht heran, ja sie degradieren sie streckenweise sogar zu einem bloßen Hintergrundgedudel, indem sie die musikalischen Themen optisch vereindeutigen. Zum flirrenden Beginn der "Petruschka"-Musik fliegen Vögel über die Leinwand, wendet sich die Musik ins Moll, dann kippt der Film ins Schwarzweiß. "Petruschka" mit Zirkus-Akrobaten statt mit Tänzern zu besetzen, ist ein gelungener Einfall, der szenisch eindrucksvoll glückt. Insgesamt leidet die Aufführung jedoch auch an der blass und mechanisch klingenden Interpretation des Orchesters der Komischen Oper unter Markus Poschner.

Auch dem Zauber der "Ravel"-Partitur, die höchst idiomatisch verschiedenste Stile mischt, verweigern sich Dirigent und Orchester nachhaltig. Die Kurzoper erzählt davon, wie sich die Wahrnehmung eines Kindes magisch verwandelt, nachdem es sich einem zerstörerischen Wutanfall hingegeben hat. Nach der Rüge der Mutter beginnen die Dinge, die das Kind malträtiert hat, ein Eigenleben zu entwickeln: Möbel, Tiere, Pflanzen, die Prinzessin aus einem Bilderbuch und das Schäfer-Pärchen des Tapetenmusters erweisen sich als empfindende Wesen und offenbaren eine eigene Dignität, die das Kind schließlich durch Empathie zur Einsicht bringt. Das Libretto der Schriftstellerin Colette fühlt sich liebevoll in die Fantasiewelt des Kindes ein. Und Ravel, der ein Faible für mechanisches Spielzeug, Puppen, Uhren und Spieldosen hatte, schrieb dazu eine in ihrer Künstlichkeit zutiefst beseelte Musik, in der das stilistische Nebeneinander von Foxtrott und Chinoiserie, von archaisierender Pastorale und Jazz völlig natürlich erscheint. Im seelenlosen Spiel des Orchesters aber klang an diesem Abend alles gleich. Nicht einmal die prächtigen instrumentalen Farbwerte der Orchestrierung kamen zur Geltung. Insgesamt blieb die Umsetzung hier ernüchternd zweidimensional und ohne Gespür für den eigentlichen Zauber des Stücks. Das abstoßend dickliche Pfadfinderkind scheint geradewegs dem computeranimierten Pixar-Film "Oben" entsprungen zu sein. Zur Einsicht gebracht wird es nicht durch das Mitfühlen mit den Dingen, die es zuvor kaputtgemacht hat, sondern sehr simpel durch Einschüchterung und Gewalt. Die Katzen wollen es fressen, das Feuer es verbrennen und die Prinzessin aus dem Märchenbuch ist auch nicht mehr als ein Klischee aus einem hässlichen Comic.

Ravel sagte einmal über einen mechanischen Buchfinken, er fühle sein Herz schlagen. Über eine solche Fantasie verfügen die Künstler von "1927" nicht. Sie reiten geschickt auf der Nostalgiewelle wie der Zirkus Roncalli oder die Prager Schattentheater und Laterna-Magica-Bühnen. Blickt man genauer ins gar nicht nur "goldene" Jahr 1927 hinein, in dem man politisch schon finsteren Zeiten entgegensah, wirkt die Selbstdefinition der Truppe auch ein wenig irritierend.

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