Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Phrasenmäher":"Ins Rutschen kommen"

Lesezeit: 1 min

Ethische Maßstäbe, der Euro, Butterpreise, die Container auf dem Schiffen: Überall droht offenbar eine gewaltige Erosion oder eine unvermeidliche Abwärtsbewegung. Bei dieser Metaphorik, so scheint es, gibt es kein Halten mehr.

Von Bgr

Butterpreise, ethische Maßstäbe, Kasachstan, die Rüstungskontrollarchitektur, Gesundheitszustände, die Wertschöpfung, der Euro: kein Halten mehr, nirgends. Alles gerät "ins Rutschen" oder steht kurz davor, in die nicht wünschenswerte Bewegung zu geraten. Denn klar ist, dass es beim Rutschen nach unten geht, dass es schlimmer werden wird. Der Verbraucher, der Wähler, der kränkelnde Mensch, das Gemeinwesen, die Unternehmer in der Eurozone - sie alle mögen den drohenden Niedergang jetzt vielleicht noch gar nicht bemerken, ja, in völliger Verkennung des tatsächlich prekären Zustands sogar noch kurze Siege in ihren Schlachten feiern. Wehe ihnen! Sie kennen den Krieg nicht.

Doch gibt es unbeirrbare Auguren in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, in Talkshows sowieso und in Unternehmensberatungen, gerne auf Oppositionsbänken, in Fußballstadien und in Kommentarspalten. Sie wissen, was wir nicht wissen, und sagen es mit kühlem Kopf, wenn man ihnen ein Mikrofon hinhält: Veränderung ist Verfall. Der Lauf der ganzen Welt droht "ins Rutschen" zu kommen. Ein Glück, dass es diese Weitsichtigen gibt, die eins und eins noch zusammenzählen können und die Zeichen der anstehenden Verhängnisse, der großen Erosion zu deuten wissen. Denn ins Rutschen kommt etwas meist im Konjunktiv, es könnte passieren, das Schiff mit unseren Gewissheiten-Containern droht zu havarieren. Dann aber dürfte es so richtig fatal werden. Anders als die lauten Geschwister dieses Entropie-Flüsterns, anders als das Anprangern und Geißeln, die zu fabulieren beginnen, wenn die Dinge bereits "den Bach runtergehen", wenn "Schlingerkurs" und "Schieflage" unübersehbar geworden sind und die "Lawine" hereingebrochen ist, kurz: wenn "kein Land mehr in Sicht" ist, hören die achtsamen Rutsch-Warner das Gras wachsen. Merke: Mit dem Rutschen verhält es sich wie mit guten Stephen-King-Büchern und David-Lynch-Filmen: Das wahre Grauen liegt unter ruhigen Oberflächen.

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Quelle:
SZ vom 05.04.2019
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