Süddeutsche Zeitung

Kolumne Mediaplayer:Raubüberfall in der Unibibliothek

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Anatomie einer Gangster-Pleite: die Komödie "American Animals".

Von Sofia Glasl

Die Erinnerung ist eine unzuverlässige Erzählerin. Kompliziert wird es, wenn mehrere Versionen ein und desselben Ereignisses aufeinanderprallen. Wessen Wahrheit ist real? Der britische Filmemacher Bart Layton untersucht diese Frage in seinem Film "American Animals", in dem er einen Raubüberfall schildert, der 2004 an der Transylvania University in Lexington, Kentucky stattgefunden hat. Vier Studenten überwältigten eine Bibliothekarin und versuchten, wertvolle Bücher aus einem Sonderbestand zu stehlen, darunter eine Erstausgabe von Charles Darwins "Über die Entstehung der Arten". Klar ist, dass dieses Unterfangen unsagbar schief ging und die Täter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Frage, wie sie auf die Idee kamen, ist hingegen nicht so einfach zu beantworten. Der Regisseur stellt seinem Werk daher den Hinweis voraus: "Dieser Film basiert nicht auf wahren Begebenheiten." Jedoch löst sich das "nicht" der eingeblendeten Schrift vor den Augen des Publikums auf.

Layton setzt auf visuelle Bruchstellen wie diese und erhebt sie zum Prinzip, indem er dokumentarisches und fiktionales Material miteinander konfrontiert und zu einem Hybrid verschränkt. Interviews mit den realen Räubern kommentieren die Spielhandlung, stellen sie in Frage, konterkarieren sie. Die beiden Strippenzieher Spencer und Warren erzählen zu Beginn, wo sie das erste Mal über die Bücher gesprochen haben. War das bei einer Autofahrt oder einer Party? Auf der visuellen Ebene führen ihre fiktionalen Alter Egos eine nahtlose Unterhaltung, deren Setting jedoch hin und her springt. Ähnlich geht es mit den Schuldzuweisungen. Wessen Version die richtige ist, bleibt offen. Der reale Spencer sinniert später: "Ich frage mich, ob ich die Ereignisse aus Warrens Sicht oder aus meiner in Erinnerung habe. Und ob es nicht einfacher gewesen wäre, wenn ich mich für meine entschieden hätte."

Die Story des Films entspinnt sich also unter der Prämisse, dass die Motive der Figuren und somit die Handlung sich jederzeit wieder ändern können. Unzuverlässige Erinnerung und blühende Fantasie verschwimmen ineinander. Der Selbstfiktionalisierung der Figuren ist kaum etwas entgegenzusetzen. Doch bröckelt diese Fassade merklich und es wird klar, dass die vier Jungs sich den Raub in einer Sinnkrise ausgedacht haben. Spencer ist Kunststudent und hat das Gefühl, ein lebensveränderndes Erlebnis haben zu müssen, um der nächste van Gogh werden zu können. Ähnlich geht es seinen Kumpels. "Du wartest, dass etwas passiert, weißt aber nicht, auf was." Die vier haben noch nichts erlebt, und deshalb erklären sie ihr Leben kurzerhand zum Gangsterfilm. Sie sichten alle Heist Movies, die der Videoverleih hergibt, um sich vorzubereiten. Auskundschaften, Planung, Verkleidung, Fluchtwagen - ein Kinderspiel. In einer Traumsequenz tänzeln sie durchchoreografiert wie Ocean's Eleven durch die Bibliothek. Ihre Codenamen haben sie aus Quentin Tarantinos "Reservoir Dogs". Dass der Film für keinen der Gangster gut ausging, scheint sie nicht zu stören.

Was soll schon passieren, sie sind männlich, weiß und aus der Mittelschicht, ihnen muss doch die Welt offenstehen. Diese Fallhöhe wird ihnen zum Verhängnis und für Bart Layton zur Paradeszene des Films. Es geht schief, was schiefgehen kann, und das ist zum Brüllen komisch. Layton widersteht der Versuchung, sie als liebenswerte Antihelden zu inszenieren, sondern zeigt sie als das, was sie sind: halbstarke Idioten, die eine Bibliothekarin verletzt haben.

Die Selbsterzählungen der Amateurgangster machen deutlich, dass die vermeintliche Wahrheit eines Dokumentarfilms genauso gut Fiktion sein kann. Layton geht sogar so weit, dass er den realen und den fiktionalen Warren zusammen ins Auto setzt und darüber sinnieren lässt, welche Erinnerung nun die korrekte ist.

In Zeiten von Fake News und alternativen Fakten ist "American Animals" ein Glücksfall. Der Film zeigt, wie schnell und bereitwillig man sich von Geschichten verführen lässt - und was für einen Sog die Dialektik von Dokumentar- und Spielfilm entwickeln kann.

American Animals ist als DVD, Blu-ray und Video on Demand erhältlich (ab 11,99 Euro).

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Quelle:
SZ vom 21.01.2019
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