Kolumne "Little Britain":Der Yoda des Zeitungslesens

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Eine britische Sonntags-Zeitung unterscheidet sich in ihrem Umfang kaum von einem Buch. Sie zu lesen, kann bis zu drei Tage in Anspruch nehmen. Das geht natürlich auf Kosten anderer Verrichtungen des täglichen Lebens, zum Beispiel: des Essens.

Christian Zaschke

In der Regel gelingt es mir, die buchdicken englischen Sonntagszeitungen bereits am Mittwochabend vollständig durchgelesen zu haben. Das geht zunächst ein wenig auf Kosten der Montags-, der Dienstags- und der Mittwochs-Zeitungen, aber die habe ich meist bis zum Freitagabend durch.

Zu viele Zeitungen, zu wenig Zeit. Unser Autor muss seine Woche genau planen. Nur so findet er neben dem Lesen noch Zeit für das Essen. (Foto: REUTERS)

Das heißt: Natürlich kommt dauernd irgendwas dazwischen. Besonders Termine in der Stadt bringen alles durcheinander. Wenn ich meiner Lektüre jedoch planmäßig folgen kann, schaffe ich die mit Musik-, Buch- und Filmbeilagen gespickten Freitags-Zeitungen bis zum späten Samstagnachmittag.

Samstagabends koche ich dann eines der Rezepte aus dem Wochenend-Magazin des Guardian: meist das von Hugh Fearnley-Whittingstall, zuletzt auch öfter mal das von Yotam Ottolenghi. Ich weiß, dass ich in dieser Zeit zum Beispiel die sehr gute "Weekend"-Beilage der Financial Times, den Samstags- Independent oder das liegengebliebene Satire-Magazin Private Eye abarbeiten könnte, weshalb das Schuldgefühl immer mit am Herd steht.

Aber man muss ja auch mal was essen, zum Essen komme ich sonst die ganze Woche nicht. Jedenfalls beende ich die Lektüre der Samstagszeitungen erst am sehr späten Sonntagabend, wenn die ganze Stadt längst schläft, um Kraft zu sammeln für eine neue, aufregende Woche.

Jeden Morgen stehe ich also beim Newsagent, um mich mit neuen Zeitungen zu versorgen. Ich sehe den Newsagent öfter als jeden anderen Menschen auf der Welt. Am zweithäufigsten sehe ich den Japaner, der ebenfalls immer alle Zeitungen kauft.

Der Newsagent betreibt seinen kleinen Laden seit 35 Jahren. Er sitzt von morgens bis abends hinter dem Verkaufstresen und liest. Unter denen, die das Zeitungslesen wirklich ernst nehmen, ist der Newsagent eine Art letzte Autorität. Wenn der Japaner und ich der Luke Skywalker und der Han Solo des Zeitungslesens sind, dann ist der Newsagent Yoda.

Eines Sonntagmorgens erzählte der Japaner, dass er am nächsten Tag nach Hause fahre. "Wie lange fliegt man denn nach Japan?", fragte der Newsagent. "Ich habe Flugangst", sagte der Japaner, "ich nehme den Zug." "Wie lange fährt man denn nach Japan?", fragte der Newsagent. "Eine Woche", sagte der Japaner. Von St. Pancras nach Brüssel, quer rüber nach Moskau, vor dort mit der Transsibirischen Eisenbahn ans Ende der Welt. Dort lege dann die Fähre nach Japan ab. So erzählte es der Japaner.

Der Newsagent und ich wünschten gute Reise. Der Japaner bedankte sich. Dann verließ er den Laden mit einem Stapel Zeitungen, der ihn immerhin bis zum nächsten Mittwoch beschäftigen würde.

© SZ vom 18.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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