Kolumne: Deutscher Alltag:Schwarz-Rot-Obi

Die Geschichte lauert im Baumarkt: Deutschland wühlt zum Jubiläumsjahr in der Vergangenheit und vergisst vor lauter Retrospektiven, wie es wirklich ist.

Kurt Kister

Zur Zeit wird der Mensch mit großen Mengen Deutschland zugeschüttet. Im Fernsehen, im Hörfunk und natürlich in der Zeitung, auch in dieser, gibt es 60 Jahre BRDDR und 20 Jahre Mauerfall bis zu jedem Grad des Überdrusses.

Kolumne: Deutscher Alltag: Deutschland findet man montagvormittags bei Obi. Hier rüstet man sich für die wahren Probleme des Alltags.

Deutschland findet man montagvormittags bei Obi. Hier rüstet man sich für die wahren Probleme des Alltags.

(Foto: Foto: ddp)

Kein zweitgenerationiger Gastarbeiter a.D. bleibt uninterviewt; jeder Verfassungspatriot findet eine Podiumsdebatte, bei der er sich mit anderen Verfassungspatrioten über Patriotismus streiten kann; jeder in Unehren ergraute SED-Kader darf im Deutschlandfunk im Sinne der epochenübergreifenden Eva-Herman-Schule darüber räsonieren, dass es so schlecht nicht war in der DDR.

Deutschland aber findet man in all dem Sums nicht. Das ist gewiss. Deutschland findet man montagvormittags bei Obi. (Nein, das ist keine Schleichwerbung, sondern ein Gattungsbegriff gewordener Eigenname wie Tempo oder Jeep.)

Mit Kartons, Kreppband und Plastikplanen steht man in einer langen Schlange. Daheim lauert der Fenstermann, der die Stöcke herausbricht und dabei die Wohnung einstaubt, wie es schlimmer nicht war 1942 beim Vormarsch auf Bir Hacheim. Am Donnerstag sagt der schreckliche Fenstermann, er komme am Montag wieder.

Dann schickt er am Dienstag nur den Lehrbuben, der auf Vorhaltungen stammelt: "Ich mach nur, was der Chef sagt." So ist Deutschland, so war es schon immer. Schon unter Karl dem Großen haben die Lehrbuben die Sachsen geschlachtet, weil der Chef es gesagt hat.

Im Baumarkt jedenfalls schleppen die Leute Dinge fort, als gäbe es kein Morgen: Topfpflanzen, Rauputz, Holzleisten, Farbeimer, Zargen, Klodeckel. Auch Klodeckel sind 60 Jahre Deutschland. Wer einmal im Obi in Berlin-Lichterfelde stand, wo es mutmaßlich die gewaltigste Auswahl an Klodeckeln weltweit gibt, der weiß, warum die DDR keine Überlebenschance hatte. Eine Gesellschaft, die 120 verschiedene Toilettensitze bereithält, ist unbezwingbar. Wir haben das Ziel der Geschichte erreicht.

Im Kleinen aber herrscht nicht die Freiheit, sondern der Fenstermann. Man hat mit all den Kartons, Plastikplanen und Kreppbändern Hab und Gut verpackt, geschützt vor dem Feinstaub. Es ist wie ein halber Umzug oder ein viertel Tod. Der Fenstermann aber schneidet mit der Flex ins Gemäuer und sagt: "Kriegen wir schon, passt schon." Nichts kriegen wir, nichts passt.

Der unschuldige Sohn hustet zum Gotterbarmen. Das neue Fenster in der Küche klemmt, es ist zu tief angesetzt. "Hoppla", sagt der Fenstermann, als man reklamiert. "Machen wir nächste Woche, am Montag kommen wir zu dritt." Es wird Dienstag sein, und es wird nur der Lehrbub kommen. "Der Chef", sagt der Lehrling, "ist montags auf Fortbildung." Ach, Deutschland.

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