Kolumne: Deutscher Alltag:Großartig unglücklich

Ob Frankfurt, München oder Berlin - gerade da, wo man ist, ist man unglücklich. Wien dagegen ist fremd, aber schlichtweg wunderbar.

Kurt Kister

Manche Menschen sind immer da unglücklich, wo sie gerade sind. Lebt man in Hamburg, sehnt man sich nach den Bergen und unblonden Leuten, die nicht so aussehen, als seien sie einer ZDF-Vorabendserie entsprungen. Der Umzug nach Berlin bringt alsbald die Erkenntnis, dass der marode Zustand der S-Bahn in dieser Stadt keine Ausnahme, sondern eine Art Verkörperung des Berliner Wesens ist. Hat man lange genug mit sich in Berlin gehadert, geht es nach München. Dort gibt es Berge, funktionierende S-Bahnen und jede Menge Dunkelhaarige. Bald aber bemerkt man, dass München eigentlich nur Kassel mit anderen Mitteln ist.

Kolumne: Deutscher Alltag: Wienerisch ist jenes Lebensgeräusch, das dazu gehört, wenn man im Sacher einen Großen Braunen bestellt.

Wienerisch ist jenes Lebensgeräusch, das dazu gehört, wenn man im Sacher einen Großen Braunen bestellt.

(Foto: Foto: dpa)

Frankfurt, Düsseldorf oder Osnabrück kommen für den stets Suchenden kaum in Frage. Dort fühlt man sich nur wohl, wenn einem nichts anderes übrigbleibt. Freiburg? Nun ja, da haben die Frauen meistens diese genderbewussten, kurzen Haare und außerdem ist die Schweiz zu nahe. Aachen? Wäre ganz in Ordnung, eigentlich. Dann aber denkt man daran, wie Ulla Schmidt spricht und möchte nicht mehr nach Aachen ziehen.

Eine Stadt bleibt noch: Wien. Schon richtig, Wien ist nicht Deutschland. Und Wienerisch ist selbst im Vergleich zum Aachner Platt oder zum verknödelten Niederbayerisch weniger ein Dialekt als vielmehr eine Fremdsprache ("fremd" im Sinne des englischen strange, fremdartig.) Andererseits aber ist Wienerisch jenes Lebensgeräusch, das zu Karl Kraus, Helmut Qualtinger und Kottan gehört; jener Tonfall, der an einem regnerischen Novembertag im Zentralfriedhof die Monumente umwispert; jene Sprache, in der man in den Drei Hacken ein Salonbeuscherl bestellt oder im Griensteidl noch einen Großen Braunen.

Es behauptet ja niemand, dass Berlin keine richtige Großstadt sei. Und es ist auch noch Hauptstadt eines wichtigen europäischen Landes. Wien aber ist schlichtweg wunderbar, weil es eine Metropole ist mit eigentlich nichts drumherum. Es ist fraglich, ob Österreich wirklich ein Staat ist oder vielleicht doch nur eine Art souveräner Landkreis wie San Marino. Deswegen sind die modernen österreichischen Politiker auch fast immer viel zu klein für Wien, mindestens aber für die Ringstraßenbauten.

Das Interessanteste jenseits von Wien ist der Neusiedler See, weil es da noch mehr Vögel gibt als in Wien, wenn auch nicht so sonderbare. In kaum einer Stadt kann man so viele Möbel besichtigen, auf denen Prominente gestorben sind: die blutbefleckte Couch von Kanzler Dollfuß, Kaiser Franz Josephs Bett, die aus Sarajewo beschaffte Chaiselongue des tödlich verwundeten Thronfolgers Franz Ferdinand.

Man könnte, hätte man denn das Geld und die Zeit, in Wien ein Leben verträumen. Wahrscheinlich könnte man dort auf das großartigste unglücklich werden.

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