Kolumne: Deutscher Alltag:Die DDR lebt

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Friedrich Schiller und die DDR haben beide das Zeitliche gesegnet - und leben doch versteckt fort. Stellt sich die Frage: Wäre der große deutsche Literat heute ein Linkspartei-Wähler?

Kurt Kister

Wie schön, dass es immer wieder Anlässe gibt, sich an irgendetwas zu erinnern. Man geht in den Buchladen und sieht einen Tisch voller Schiller-Bücher. Schiller? Aber der war doch gerade erst...? 200. Todestag? Gestorben, heißt es im Klappentext, sei der Mann am 9. Mai 1805. Aha, ist dieses Schillerjahr auch schon wieder vier Jahre her. Und jetzt? 2009, schon wieder Schillerjahr. Geboren wurde Friedrich Schiller zu Marbach, mutmaßlich im Deutschen Literaturarchiv, vor 250 Jahren, am 10. November 1759.

Die DDR - ein Leseland

Neben Schiller der nächste Tisch im Buchladen: die DDR. Gleich zwei Jubiläen. Vor 60 Jahren gegründet, vor zwanzig Jahren die Todeswunde empfangen im November 1989. Maueröffnung. Von Schiller nimmt man nicht an, dass er noch leben könnte, versteckt in einem Keller in Jena oder in einer Tiefgarage unter dem Frauenplan. Die DDR dagegen lebt noch. Man begegnet ihr in der Dämmerung in Cottbus, auf dem platten Lande in Sachsen und hin und wieder auch vor einer Imbissbude in Mecklenburg. Ob wohl Schiller, wäre er 200 Jahre später geboren und hätte es ihn dann auch nach Weimar verschlagen, heute die Linkspartei wählen und die Freundschaft von Ingo Schulze suchen würde?

Die DDR, heißt es, sei ein Leseland gewesen. Sie war aber auch ein Bücherklauland. Eines Abends Ende der siebziger Jahre stand man mit zwei mäßig alten Bänden von Bismarcks Erinnerungen am Grenzübergang Friedrichstraße im Osten. Die Bände waren ein aufgedrängtes Tauschgeschäft eines Ostberliner Bekannten, der eine neue Nadel für den Plattenspieler haben wollte.

Bunkersystem unter Berlin

Als man an die Reihe kam, dekretierte ein weiblicher Unterleutnant, der genauso aussah, wie man sich Unterleutnants bei den Grenzorganen vorstellte, die Bismarck-Bände seien Kulturgut und dürften nicht ausgeführt werden. Eine kleine Debatte folgte. Die Unterleutnantin verschärfte den Ton, und weil man die Verhängung einer vorläufigen Erschießung fürchtete, händigte man die Bücher dem Staatsorgan aus. Der Bismarck verschwand. Als man fragte, ob man die Tüte auch dalassen dürfe, bellte die Unterleutnantin: "Die nähmen Se mal schön mit. Ist kein Altstofflager hier."

Später besorgte man die Plattenspielernadel. Man packte sie ein, umgab sie mit allerlei Unverdächtigem und schickte sie gen Ostberlin. Sie kam nie da an, wo sie ankommen sollte.

Der Bismarck weg, die Nadel verschwunden. Irgendwo tief unter Berlin gibt es ein Bunkersystem, wo all die Dinge, die sie geklaut haben, aufgestapelt liegen. Sie werden bewacht von wiedergängerischen Unterleutnantinnen, die erst erlöst werden, wenn sie zwei Küsse auf die Wange bekommen. Einen von Gregor Gysi und einen von Sigmar Gabriel.

© SZaW vom 10.10.2009/jobr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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