Kolonialismus und Recht:Der lange Schatten der Geschichte

Es wäre höchste Zeit, das Völkerrecht, die Menschenrechte und die Entwicklungspolitik zu modernisieren, schließlich wirken dort überall bis heute koloniale Machtverhältnisse fort.

Von Wolfgang Kaleck und Karina Theurer

Kolonialismus ist für viele ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit. Dabei gäbe es noch so vieles aufzuarbeiten, auch für Juristen - Kolonialverbrechen ebenso wie vom Kolonialismus geprägte Konzepte im Völkerrecht. Davon zeugt nicht zuletzt die mündliche Anhörung am 25. Januar 2018 vor dem Southern District Court von New York in Sachen Rukoro gegen die Bundesrepublik Deutschland. Dort geht es um die Schadensersatzklage der Ovaherero und Nama wegen des Völkermordes der kaiserlichen Armee in der ehemals deutschen Kolonie Südwestafrika (heute Namibia) von 1904. Obwohl die Bundesregierung die Entgegennahme der Klageschrift verweigerte und pauschal auf die staatliche Immunität verwies, konnten die Kläger einen Erfolg verzeichnen: Das Gericht ordnete an, die Bundesregierung müsse sich nunmehr über einen Anwalt äußern. Die nächste Anhörung findet voraussichtlich im Mai statt.

Tabuisierung und Doppelmoral sind kein Alleinstellungsmerkmal Deutschlands: Selbst nach dem Sieg über den Nationalsozialismus, den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung bombardierten Frankreich, Großbritannien und andere Länder in der Phase der umkämpften De-Kolonialisation die Zivilbevölkerung in "ihren" Kolonien. Sie vertrieben, inhaftierten und folterten massenhaft Menschen - alles nach heutigem Völkerstrafrecht sanktionswürdig. Doch weder nationale Zivil- oder Strafgerichte noch eine internationale Gerichtsinstanz beschäftigten sich mit diesen Verbrechen. Erst in den letzten Jahren fordern Überlebende - oft ohne Unterstützung ihrer Staaten- mit Hilfe von progressiven Juristen und Juristinnen ihre Rechte ein.

So reichte die Familie des kongolesischen Präsidenten, Patrice Lumumba, der 1960 von kongolesischen Rivalen gemeinsam mit belgischen und US-Militärs ermordet wurde, im Sommer 2011 eine Strafanzeige beim Generalstaatsanwalt in Brüssel gegen die noch lebenden ehemaligen Verantwortlichen ein. In den Niederlanden klagten Angehörige der Opfer eines 1947 verübten Massakers der niederländischen Armee in dem indonesischen Dorf Ragawede erfolgreich eine Entschädigung ein. Die niederländische Regierung erkannte die Massenhinrichtungen formal als Unrecht an und bat um Entschuldigung. Aufgrund von Sammelklagen von Mau-Mau-Veteranen wegen der in den britischen Internierungslagern in Kenia erlittenen Folter entschied der Londoner High Court gegen die britische Regierung, worauf diese insgesamt 19,9 Millionen Pfund für 5 228 Betroffene auszahlte.

Ausländische Mächte griffen in die inneren Angelegenheiten junger Länder ein

Selbst wenn alle diese Bemühungen den wenigen Überlebenden noch zu Gute kämen, stellt sich ein grundsätzliches Problem, welches postkoloniale Kritikerinnen und Kritiker des Völkerrechts, etwa die Gruppe Third World Approaches to International Law - TWAIL, konstatieren: Lange bestimmten die europäischen Staaten die Entwicklung und Auslegung des Völkerrechts. Die Menschen in den Kolonien wurden nicht als ebenbürtige Menschen anerkannt, es hieß, sie müssten erst noch "zivilisiert" werden. Ihre Gemeinwesen wurden nicht als gleichwertige Staaten anerkannt. Rechtsfiguren wie das Niemandsland (terra nullius), demzufolge das Land dort niemandem gehöre und der civilizing mission, derzufolge die barbarischen Einheimischen keine vollwertigen reifen Menschen seien, wurden eingesetzt. Zahlreiche rassistische Zuschreibungen haben hier ihren Ursprung. Indem ihre Rechtsnormen und Vorstellungen von Besitz und Eigentum als nicht dem zivilisatorischen Entwicklungsstand der europäischen Staaten und somit als nicht anerkennungswürdig angesehen wurden, konnten Land und Rohstoffe geraubt und Menschen massakriert werden. Kritiker wie Anthony Anghie beschreiben, wie die civilizing mission begrifflich in einer Mission der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung aufging.

Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ehemaligen Kolonien als souveräne Staaten formal anerkannt wurden, wollten diese innerhalb der Vereinten Nationen als Völkerrechtssubjekte eine neue Wirtschaftsordnung auf Augenhöhe aushandeln - um tatsächlich Souveränität über ihre Ressourcen zu erlangen. Doch sie wurden völkerrechtlich ausgekontert; sie seien in eine Ordnung bestehender Verträge und Normen eingetreten, die nicht mehr verhandelbar sei. Zudem griffen ausländische Mächte direkt in ihre inneren Angelegenheiten ein, Geheimdiensten halfen bei der Absetzung und Ermordung unliebsamer Politiker, etwa im Kongo und in Iran.

Auch in internationalen Handelsstrukturen und Entwicklungspolitiken wirken koloniale Machtverhältnisse fort. Viele Staaten des globalen Südens "akzeptierten" unter Druck die neoliberale Anpassung ihrer nationalen Regelungen durch Strukturanpassungsprogramme, weil sie auf die Kredite von IWF und Weltbank angewiesen waren.

Bei aller Kritik lehnen die TWAIL-Wissenschaftler jedoch Rechtsnihilismus ab: Sie betonen, ein zeitgemäßes Völkerrecht könne ein fragiles Schutzschild für weniger mächtige Staaten bieten. Dafür müsse aber das grundsätzliche emanzipatorische Potenzial des Völkerrechts entwickelt werden, um Ungleichheit und Ungerechtigkeit abzumildern. Vor allem müsste man die Regeln des (internationalen) Wirtschaftsrechts neuverhandeln. Die europäischen Regierungen müssten sich für ihre jeweiligen Kolonialverbrechen formal entschuldigen und strukturelle Maßnahmen zum Ausgleich der durch die Kolonialisierung verursachten sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit initiieren. Integraler Bestandteil der Beendigung (neo-)kolonialer Macht wäre vor allem ein Schuldenerlass.

Auch die Menschenrechte werden aus postkolonialer Perspektive zwar kritisch hinterfragt, dennoch als wichtige Quelle zur Veränderung angesehen. Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sowie die kollektiven Rechte seien nicht ausreichend anerkannt und durchsetzbar. Im Rahmen der Kollektivrechte müsse es insbesondere um Beteiligungsrechte von betroffenen Gemeinden bei großen Infrastrukturprojekten wie Staudämmen, Bergbauprojekten, massiver Abholzung oder Fragen der Landnutzung gehen. Faktisch können weite Landstriche im Regenwaldgürtel des Äquators durch Brandlegungen zur terra nullius gemacht werden.

Nichtregierungsorganisationen seien aufgrund der Komplizenschaft vieler Staaten des Nordens wie des Südens für die Fortentwicklung der Menschenrechte wichtige Vermittler, um die materielle Ungleichheit abzuschaffen - so argumentiert etwa der kenianisch-amerikanische Jurist Makau Mutua. Die meisten Organisationen blieben aber klassischen zivilen und politischen Individualrechten verhaftet und seien nicht in der Lage, adäquate Forderungen zu Ausbeutung und Armut zu artikulieren. Zudem wirft Mutua westlichen Menschenrechtlern vor, oft in patriarchaler Weise drei Kategorien zu konstruieren: die Opfer, die Täter und die Retter, wobei der Westen die letzte Kategorie in der Regel sich selbst vorbehalte. Die Angeklagten würden als die bösen Anderen erscheinen, als Protagonisten isolierter Exzesse. Gewalt würde damit abstrakt. Opfer, Täter, Retter - diese Rollenverteilung lässt keinen Platz für tiefere politische Analysen zu und schon gar nicht für die Erörterung der Mitschuld westlicher Akteure.

Es wäre ein Anfang, die Rechte der Menschen in ausländischen Produktionsstätten zu schützen

Von der Bundesregierung ist neben einem Eingehen auf die Forderungen der Ovaherero und Nama ein Beitrag in Richtung neuer Weltwirtschaftsordnung zu fordern. Beginnen kann man beispielsweise damit, in Abänderung des sogenannten Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte vom Dezember 2016 verbindliche gesetzliche Haftungsregelungen für transnationale Unternehmen zu schaffen, um die Rechte der Menschen in Produktionsstätten und Zulieferbetrieben im Ausland zu schützen.

Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus darf also nicht nur vergangenheitsbezogen geführt werden. Es gilt Perspektivänderungen zu stärken und andere Blickwinkel einzunehmen, um die diversen Wirkungen des Rechts zu verstehen und auch den "Anderen" zuzugestehen, Subjekte zu sein. Dann kann Recht derart eingesetzt werden, dass den seit langer Zeit leidenden Menschen auf der ganzen Welt ein Mindestmaß an Wohlstand ermöglicht wird.

Wolfgang Kaleck ist Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights, Karina Theurer ist dort Juristin.

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