Körperkunst im Wandel der Zeit:Das Tattoo - ein Phänomen der Oberschicht

Mara Salvatrucha

Für Mitglieder der Maras in El Salvador sind ihre Tätowierungen Erkennungsmerkmale im tödlichen Bandenkrieg.

(Foto: Christian Poveda/Agence VU)

Wer glaubt, das Tattoo sei ein Massenphänomen der Gegenwart, ausgelöst von Fußballern und Musikern, der irrt. Ende des 19. Jahrhunderts soll die Zahl der tätowierten Frauen in der New Yorker Oberschicht bei 75 Prozent gelegen haben. Eine Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur beleuchtet eine der ältesten Handwerkskünste der Menschheit.

Von Laura Weißmüller

König Edward VII. hatte eins, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, genauso wie Zar Nikolaus II. und Prinzessin Marie von Orléans. Königin Victoria soll sogar Tiger und Python an intimen Stellen des Körpers getragen haben - wer glaubt, das Tattoo sei ein Massenphänomen der Gegenwart, ausgelöst von ganzkörperverzierten Fußballern und Musikern, der irrt.

Die Begeisterung wächst zwar seit Jahren - mehr als ein Viertel der deutschen Männer und Frauen zwischen 25 und 34 Jahren sind schon tätowiert -, doch gegenüber der Tätowierfreude im 19. Jahrhundert ist das geradezu noch zurückhaltend. 1897 soll die Zahl der tätowierten Frauen in der New Yorker Oberschicht bei 75 Prozent gelegen haben. Angehörige nahezu aller europäischen Fürstenhäuser waren tätowiert. Die Regenbogenpresse belegt das ausführlich. Wer es sich leisten konnte, lud gleich einen japanischen Tätowiermeister zu sich nach Hause.

Auch wenn es sich heute nicht mehr zwangsläufig um ewige Zeichen auf der Haut handelt und die Dermatologen wohl bald mit dem Entfernen von Ganzarmtattoos beginnen werden, lohnt gerade jetzt ein Blick auf die Kulturgeschichte des Tattoos. Denn was im Westen oft als Wunsch nach Individualität, nach dem Herausstechen aus der Masse interpretiert wird, ist in anderen Kulturkreisen genau das Gegenteil: Zeichen von Gruppenzugehörigkeit.

Volle Wirkung in der Bewegung

Bislang beschäftigten sich überwiegend Buchautoren mit dem Thema. Nichts gegen all die bildmächtigen Coffee Table Books und noch weniger etwas gegen fundierte Analysen wie die von Ulrike Landfester im vergangenen Jahr, doch die Gattung der Tätowierkunst erzielt ihre volle Wirkung erst in der Bewegung. Wenn die Haut sich faltet und das Bild darauf zum Leben erweckt. Das wird klar, wer die vielen Filme und Exponate in der aktuellen Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur sieht. Sie ist ein Plädoyer dafür, eine der ältesten Handwerkskünste der Menschheit auch kunsthistorisch ernst zu nehmen.

Auslöser für die Tätowierbegeisterung im 19. Jahrhundert waren die Forschungsberichte von den Expeditionen in die Neue Welt. James Cook brachte von dort nicht nur den Namen - "Tattow" nannte er die dauerhafte Bemalung der Eingeborenen in Tahiti in einem Logbucheintrag 1769 -, sondern auch eine Jahrmarktsattraktion: den tätowierten Prinzen Omai.

Dabei kannte man Körperbilder eigentlich schon sehr viel länger. So wie Ötzi und ägyptische Mumien tätowiert waren, trugen auch Kreuzritter Zeichen auf der Haut. Der älteste bekannte Bericht über eine erfolgreiche Identifizierung durch eine Tätowierung stammt just aus Cooks Heimat. Im 11. Jahrhundert soll dort der Leichnam König Haralds II. anhand der Inschrift "Edith and England" über seinem Herzen erkannt worden sein. Lyrik war offenbar noch nie eine Stärke von Tattoos.

Maud Stevens Wagner

Maud Stevens (1877-1961) war die erste bekannte, westliche Tätowiererin und machte sich selbst zum Kunstwerk.

(Foto: Katalog)

Visitenkarte unterm Hemd

Dafür waren es über den Tod hinaus sichtbarer Belege, für was jemand stand, quasi die Visitenkarte unterm Hemd. Das zeigen auch die Objekte aus dem rechtsmedizinischen Institut. Auf handtellergroßen Hautstücken aus dem 19. Jahrhundert gibt es da neben Gewichtheber und Segelschiff auch den Bauern, der eine Kuh am Pflug führt, das Wappen der Kaminkehrer oder gleich die Helvetia. Statt Stigma also stolzer Beweis der Klassenzugehörigkeit.

Von der Botschaft ähnlich, nur sehr viel prominenter im Auftreten ist die traditionelle Tätowierung in Neuseeland. Auch sie gibt Auskunft über soziale Stellung und Familienzugehörigkeit, nur tut sie das - wie in Burma - im Gesicht. Kaschieren ist ausgeschlossen, die Renaissance des Gesichts-Tattoos ist damit auch der Beweis für das wachsende Selbstbewusstsein der Maori.

Die Ausstellung macht klar, wie die Tattoo-Szene in den letzten Jahrzehnten an Vielfalt gewonnen hat. Nicht zuletzt dank der Frauen. Maud Stevens, die erste westliche Tätowiererin, war lange Zeit die Ausnahme. Frauen waren eher Muse und Modell, sie verdienten mit ihrem Körperschmuck Geld, nicht mit ihrer Kunst. Noch 1953 sprach man beim Bristol Tattoo Club, der ersten Tätowiervereinigung von Großbritannien, vom Men-only Club. Doch das hat sich geändert. Nicht nur im belgischen Film "Broken Circle" ist die weibliche Hauptfigur eine Tätowiererin.

Gleichzeitig greifen immer mehr Illustratoren und Künstler zur Nadel. Das erklärt die wachsende Kreativität bei den Motiven und Typografien. Der Schritt zur Kunst ist da nicht weit. Nur: Wie lässt sich so etwas verkaufen? Der mexikanische Künstler Dr. Lakra ist mit seinen Totenköpfen, Vollblutfrauen und Teufelsfratzen auf Leinwand und Papier ausgewichen. Wim Delvoye hat dagegen den Schweizer Tim Steiner zum "ersten lebenden Kunstwerk" erklärt. Der ließ sich ein Werk des belgischen Konzeptkünstlers auf den Rücken tätowieren. Ein Hamburger Kunstsammler hat es erworben. Das zumindest gab es im 19. Jahrhundert wirklich noch nicht.

Tattoo, Gewerbemuseum Winterthur, bis 9. Juni 2014, www.gewerbemuseum.ch

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