Süddeutsche Zeitung

Mädchen in Knabenchören:Verhauchte Stimmung

Im Berliner Staats- und Domchor singen nur Knaben. Nun hat die Mutter eines neunjährigen Mädchens dagegen geklagt. Aber so einfach ist es nicht.

Von Helmut Mauró

Im Berliner Staats- und Domchor singen traditionell nur Knaben. Das könnte sich ändern: An diesem Freitag soll das Verwaltungsgericht jedenfalls über eine entsprechende Klage, angestrengt von der Mutter eines neunjährigen Mädchens, entscheiden. Die Neunjährige wurde im November 2018 abgewiesen, wobei die Auswahlkommission nach einem Vorsingen der Meinung war, dem Mädchen fehlten die Grundlagen für eine Ausbildung im Chor. Außerdem wurde die unzureichende Motivation des Kindes bemängelt. Die Mutter hingegen führt die Nichtaufnahme ihrer Tochter auf eine unzulässige Zugangsbeschränkung für Mädchen zurück.

Knabenchöre haben sich allerdings zum Teil seit fast tausend Jahren monogeschlechtlich erhalten. Das hing bis vor 100 Jahren mit der europäischen Geschlechterkultur zusammen, andererseits bis heute aber auch mit handfesten medizinischen und musikästhetischen Bedingungen. Was im Leistungssport sonnenklar ist: dass es nicht nur genderspezifische, sondern genetische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, das scheint im Kulturbereich, also im Falle der Knabenchöre, für viele nicht nachvollziehbar. Tatsächlich wird man in einem gemischten Laienchor vielleicht keine allzu großen Unterschiede in den gesanglichen Fähigkeiten hören können, immerhin aber schon klangfarbliche Differenzen zwischen Mädchen und Jungen. Allein dies ist schon für viele professionell ausgebildete Knabenchöre, die einen besonders homogenen Klang anstreben, ein Problem.

Sollten sich E-Gitarristen bei den Philharmonikern einklagen?

Die Klarheit einer Knabenstimme wurde von Anfang an im Bereich historischer Aufführungspraxis geschätzt und, wo nicht verfügbar, mühsam von Sängerinnen zu imitieren versucht. Die Unterschiede betreffen aber nicht nur die Klangfarbe, sondern auch Stimmkraft und Ausdrucksspektrum. Die physischen Parameter sind unter anderem: Größe des Kehlkopfs, der Stimmlippen, Abstand dieser zum Gaumensegel, Lungenvolumen, Beschaffenheit des Musculus vocalis . .

. Am stärksten ausgebildet bei Jungen sind Kehlkopf und zugehörige Muskulatur kurz vor dem Stimmbruch, deshalb bieten die ein bis zwei Jahre davor die besten Voraussetzungen für eine große Knabenstimme. Immer wieder gibt es Beispiele großartiger Solisten, derzeit etwa bei den Wiener Sängerknaben, früher vor allem beim Tölzer Knabenchor.

Mädchen haben vor ihrem oft unauffälligen Stimmbruch nicht die gleichen Voraussetzungen. Ihre Stimmen klingen verhauchter und weniger durchschlagend. Und selbst in englischen Kathedralchören, bei denen ein kopfstimmenlastiger hauchiger Klang zum Teil erwünscht ist, ist dieser dennoch anders eingefärbt, also auch obertonmäßig anders strukturiert, als der von Mädchenstimmen. Mädchen in Knabenchöre zu klagen: Das ist so, als würde ein E-Gitarrist um einen Platz bei den ersten Geigen der Philharmoniker streiten. Das ist denkbar, aber naheliegender wäre natürlich ein Job in einer Rockband.

Deshalb: Es gibt auch Mädchenchöre, es gibt gemischte Chöre. Es geht hier nicht darum, dass Jungs die Mädchen nicht mitspielen lassen wollen, weil sie für sich andere Spielregeln aufgestellt haben, die ihnen entsprechen. Und selbst das wäre ein legitimer Grund für geschlechtliche Absonderung. Die meisten Knabenchöre aber sind dem Thema mehr als aufgeschlossen: Die Wiener Sängerknaben, bei denen einst auch Mädchen anklopften, haben ihre Tore so weit wie möglich geöffnet, haben einen gemischten Kindergarten installiert, Mädchen auf der Internatsschule zugelassen. Bei den Thomanern hat man Erzieherinnen und Heim- und Schulleiterinnen bestellt. Nur den weltweit einmaligen Chorklang, den konnte kein Chor einfach mal so opfern.

Dieser spezifische Klang ist bedeutsam für Einrichtungen, die ja nicht einfach irgendwelche Männerbünde sind, sondern Kulturinstitutionen von Rang. Das mag nicht jedem gleich wichtig sein - es ist aber unschätzbar.

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Quelle:
SZ vom 16.08.2019/cag
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