Kluge und Vogl im Gespräch:Aus den Löchern der Kausalität erhebt sich Godzilla

Ein wilder Parcours über den Globus: In ihren "Gesprächen" vermeiden es Alexander Kluge und Joseph Vogl, um jeden Preis Meinungen und Ergebnisse zu produzieren.

Von Thomas Steinfeld

Wenn Alexander Kluge, der Schriftsteller, und Joseph Vogl, der Literaturwissenschaftler, miteinander vor laufenden Fernsehkameras reden, nennen sie das Ergebnis ein "Gespräch". Und gewiss, dargeboten werden Rede und Gegenrede, in permanentem Wechsel. Indessen ist spätestens nach ein paar Minuten zu bemerken, dass der Literaturwissenschaftler meist mehr zu sagen hat als sein Gegenüber. Auch tragen die Einlassungen einen jeweils anderen Charakter: Der Schriftsteller setzt die Themen, in Gestalt von Stichworten, er fragt nach, er fügt hinzu, er öffnet einen Horizont, und er fällt dem Literaturwissenschaftler ins Wort. Er tut es so oft und so gründlich, dass der "Fluss" eines solchen Gesprächs als ein eher unreguliertes Unternehmen erscheint: als unregelmäßige Folge von Windungen, Abwegen, Stauungen und Beschleunigungen. Ein Titel wie "Unterbrechungen" wäre der Veranstaltung also durchaus angemessen. Beide Teilnehmer sind aber mit Begeisterung bei der Sache, und so dürfte es auch den meisten Zuschauern oder Lesern der Gespräche gehen.

So gestaltet sich gleich das erste Gespräch, das Erzählungen vom Zweikampf zwischen Mensch und Natur gewidmet ist und mit der Jagd des Kapitäns Ahab auf den weißen Wal beginnt, als ein wilder Parcours über den Globus. Für ein paar Augenblicke dreht sich das Gespräch um das Meer als Inbegriff des Bodenlosen, und dann wird über das Weiße nachgedacht, über die "Totenfarbe schlechthin". Und weiter geht es zu den Löchern in der Kausalität, aus denen sich dann Godzilla erhebt, als spezifisch japanischer "Bausatz des Furchterregenden und Ekelhaften", bis Rede und Gegenrede beim Erzählen schlechthin ankommen.

Denn dieses, da werden sich die beiden Sprecher schnell einig, entstehe immer dort, "wo es Strudel, Ablenkungen, Turbulenzen" gebe, womit für eine strukturelle Entsprechung von Gespräch und Erzählung gesorgt ist. Literatur, erläutert Joseph Vogl, sei "eine Art Senkblei, das man in die Zeit, in die verschiedenen Schichten der Zeit hält". Das Gespräch, jedenfalls in dem Sinn, in dem Alexander Kluge und Joseph Vogl es miteinander führen, erfüllt offenbar eine ähnliche Aufgabe.

Alexander Kluge bei der Premiere von Orphea auf der Berlinale 2020 / 70. Internationale Filmfestspiele Berlin im Cinema

Keine Freunde des Meinens: Alexander Kluge und…

(Foto: imago images/Future Image)

Zwei Erwartungen, unter denen Gespräche gewöhnlich leiden, werden hier von vornherein vermieden: Zum einen muss nicht um jeden Preis ein Schluss gezogen werden. Auf ein Resultat, das man als festes Wissen oder Begriff nach Hause tragen kann, kommt es nicht an. Das Gespräch hat eher experimentellen Charakter. In ihm soll sich offenbaren, was in einem Gegenstand steckt, und das ist meist mehr, als man hatte sich hatte vorstellen können: In Wilhelm Hauffs Märchen vom "kalten Herz" etwa, im Jahr 1827 erschienen, verbirgt sich eine Geschichte von der Erschließung des badischen Handwerks durch niederländisches Kapital.

Zum anderen ist dem Gespräch das Meinen fremd: "Meinung beginnt", sagt Joseph Vogl in einem Interview, das dem Band vorangestellt ist, "wo man abschneidet und ausblendet", damit sich eine ebenso subjektive wie potenziell haltlose Sicht der Dinge Geltung verschaffen kann. Ein Satz, der mit "ich finde" beginnt, zielt nicht auf Erkenntnis. Er stellt vielmehr einen Hinweis auf die eigene Persönlichkeit dar, deren Ansprüchen im Zweifelsfall nicht genügt wird. Diese Ansprüche brauchen kein Gespräch, weil sie sich immer schon im Recht wissen.

Schon einmal haben Alexander Kluge und Joseph Vogl Mitschriften ihrer Fernsehgespräche veröffentlicht, im Jahr 2009. Auch damals schon kreisten die meisten Reden um die mannigfaltigen und nicht zuletzt metaphysischen Errungenschaften des Kapitals im Zeitalter einer entfesselten Finanzwirtschaft.

In der Zwischenzeit wurde manches, was sich damals erst abzeichnete, zu Alltag und gewöhnlicher Lebenspraxis, in Gestalt der "Industrie 4.0" etwa. Das Programm des "digitalen Taylorismus" ziele, so Joseph Vogl, nicht nur auf die Befreiung der Wirtschaft von allen Verpflichtungen den Arbeitenden gegenüber, sondern auch auf seine Entledigung von den Fixkosten, wie sie zum Beispiel durch Maschinen entstehen.

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…der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl.

(Foto: imago/Christian Thiel)

Den Pionier habe diese neue Form von Ökonomie im Fahrer eines Uber-Taxis gefunden, worin mehr liege als nur ein wirtschaftliches Kalkül, sondern auch eine Anforderung an das Leben: "Jede neue Maschine ist auch ein Menschenexperiment, nicht nur eine technisches."

Manche Passagen erinnern an die beiden jüngsten Bücher Joseph Vogls, an "Das Gespenst des Kapitals" (2010) und an den "Souveränitätseffekt" (2015). In anderen wird deutlich, dass die jeweiligen intellektuellen Prägungen aus anderen Zeiten stammen: aus der Frankfurter Schule bei Alexander Kluge, aus der Auseinandersetzung mit Michel Foucault oder Gilles Deleuze bei Joseph Vogl.

Die Unterbrechung ist ein riskantes Verfahren. Wird zu oft und zu hart unterbrochen, bricht ein Gespräch auseinander. Wird zu wenig und zu sanft unterbrochen, bleibt der Sprechende eingeschlossen in seinen eigenen Gedanken. Wenn aber die Mitte gehalten wird, kann man erleben, wie fruchtbar es sein kann, zwei klugen Köpfen ihrem unruhigen Gang zu überlassen: Dann treibt die Unterbrechung das Gespräch, das sie unterbricht, zuallererst voran, auf bislang unerschlossenes, aber zuweilen bedrohlich nahes Gelände.

Alexander Kluge/Joseph Vogl: Senkblei der Geschichten. Gespräche. Diaphanes Verlag, Zürich 2020. 208 Seiten, 18 Euro.

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