Klettern:Wider alle Vernunft

Bildband Weihnachtsbeilage
(Foto: Joshua E. Larson/aus Julie Ellison: "Cliffhanger")

Es braucht Wahnsinnige, Besessene, letztlich Fantasten, um die große, wilde und senkrechte Natur der Berge und Felsen zu erobern: Der Band "Cliffhanger" zeigt spektakuläre Klettereien.

Von Tanja Rest

Wenn man von Krottensee in Richtung Sackdilling fährt, nach zweieinhalb Kilometern am Wanderparkplatz parkt, sich auf dem Fußweg zur Steinernen Stadt links hält und schließlich rechts über einen schmalen Pfad hinaufsteigt, kommt man am Waldkopf vorbei.

Kaum 15 Meter hoch und pilzförmig, unterscheidet ihn auf den ersten Blick nichts von den mehr als tausend anderen Türmchen und Felsmassiven, die ein spendabler Schöpfer mit leichter Hand in die Buchenwälder des nördlichen Frankenjuras gestreut hat; weshalb Wanderer den Kalkklops meist links liegen lassen. Kletterer tun das nicht. Sie wissen, dass an diesem Ort in ihrem Metier Geschichte geschrieben worden ist.

Am 14. September 1991 gelang dem Kletterer Wolfgang Güllich hier die freie Begehung der Linie Action Directe. Sie galt jahrelang als schwierigste Sportkletterroute der Welt, die erste überhaupt im Schwierigkeitsgrad 9a. Wer sich um einen Stammplatz in der exklusiven Riege der 9a-Kletterer bewirbt, pilgert auch heute noch zum Waldkopf und kehrt nach Tagen des Probierens, Stürzens, Scheiterns oft demütig zurück. Die Action Directe verlangt auf einer Länge von 15 Metern um die 15 katastrophal schwere Kletterzüge. Schon der Einstieg ist geeignet, einen rationalen Menschen den Verstand zu kosten: An ein Einfingerloch gekrallt, gilt es in der überhängenden Wand ein scharfes Zweifingerloch, tatsächlich: anzuspringen.

Güllich baute die schwierigsten Züge damals an seiner Trainingswand nach, er brauchte zehn Wochen und unzählige Versuche, bis er alle Bewegungen aneinanderreihen konnte. Das einzige Wort, das einem zu dieser Meisterleistung einfällt, ist Besessenheit.

Besessen sind sie alle, die Vertikalkünstler, die im Bildband "Cliffhanger" auftreten, aber auf eine inspirierende Weise. Es geht ihnen nicht um Geld, um Ruhm, schon gar nicht um abgegriffene Attribute des Bürgerlichen. Sie treibt einzig und allein die Frage an, die Menschen seit jeher Flügel verliehen hat: Könnte es wider alle Vernunft denn möglich sein ...?

Die Nose am El Capitan im Yosemite Valley zu "befreien", wie es in der Klettersprache heißt, und sich dabei nur am Granit festzuhalten? Als erste Frau der Welt das Boulderproblem Horizon am Mount Hiei in Japan zu lösen? Im norwegischen Rjukan einen frei stehenden, zu klirrendem Eis erstarrten Wasserfall hinaufzuklettern oder den furchterregenden Great Arch of China zu durchsteigen, der auf einer Länge von 400 Metern bis zu 150 Meter überhängt? Es braucht Wahnsinnige, Besessene, letztlich Fantasten, um das zu tun.

Cover Cliffhanger

Julie Ellison: Cliffhanger. Die neue Lust am Klettern. Aus dem Englischen von Johannes Schmid. Gestalten Verlag, 2020. 288 Seiten, 39,90 Euro

Man kann dem Prachtband "Cliffhanger", herausgegeben von der amerikanischen Kletterin und Journalistin Julie Ellison, manches vorwerfen. Dass er alle Spielarten des Kletterns thematisiert (Bouldern, Sport-, Eis-, Trad- und Big-Wall-Climbing); Fachfremde an die dazugehörige Begrifflichkeit sowie das Equipment heranführen will; die schönsten, mythischsten Felsarenen des Erdballs präsentiert, den dazugehörigen Lifestyle feiert und nicht zuletzt die maßgeblichen Athleten vorstellt (wobei der aktuell weltbeste Kletterer Adam Ondra, seltsamerweise fehlt). Es ist streng genommen ein Buch, das auf seinen immerhin 288 Seiten zu viel will.

Andererseits: der Spirit, das Abenteuer, die beglückende Ästhetik des kleinen Menschenkörpers in einer riesig großen Wand ... Wie könnte man dieses Buch aus der Hand legen ohne die Zuversicht, dass sich auch Undenkbares meistern lässt? "Wenn ich klettere, bin ich ganz Fels", hat Reinhold Messner mal gesagt. Verschmelzungsfantasien - wir hier im Home-Lockdown, dort draußen die große, wilde, senkrechte Natur: Mehr brauchen Träumer heute nicht.

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