Klavier-Virtuose:Der Pianist ist ein einsamer Reiter

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Am Klavier spielt man eher gegen als mit dem Orchester: Der Pianist Alexandre Tharaud. (Foto: Marco Borggreve/Warnermusic)

Keiner ist so vielfältig wie Alexandre Tharaud: Sein Repertoire reicht von Rachmaninow und Beethoven bis zu Satie und den Zeitgenossen. Das Porträt eines Musikers, der gerne auch die Grenzen der Genre überwindet.

Von Michael Stallknecht

Pianist zu sein, ist von Haus aus ein einsamer Beruf. Für die meisten Instrumente gibt es zahlreiche Stellen in Orchestern, das Klavier wird dort nur in Ausnahmefällen gebraucht. Und während Sänger meistens gemeinsam im Ensemble auftreten, bestreiten Pianisten ihre Klavierabende alleine oder treten als Einzelkämpfer einem ganzen Orchester gegenüber. Nicht einmal mit ihrem Instrument dürfen sie eine exklusive Lebensgemeinschaft bilden, schließlich müssen sie an jedem Ort ein anderes spielen. Der Pianist Alexandre Tharaud hat daraus ein Lebensprinzip gemacht. Vor zwanzig Jahren verkaufte er seinen Flügel, obwohl er Bukephalos, wie er das Instrument nach dem berühmten Pferd Alexanders des Großen nannte, mochte. "Wir waren ein bisschen wie ein altes Paar", sagt er im Gespräch, "es war langweilig, immer gemeinsam im selben Apartment zu sein." Seitdem besitzt Tharaud statt eines Klaviers einen großen Schlüsselbund. Wenn er in Paris, wo er geboren ist und noch immer lebt, üben möchte, dann ruft er Freunde an, die einen Flügel besitzen, und fragt sie, ob die Wohnung leer ist und er üben kommen darf.

Dass Tharaud nicht nur beim Üben den Tapetenwechsel liebt, kann man seiner Diskografie entnehmen, die so vielfältig ist wie bei kaum einem anderen Pianisten. Von Scarlatti bis Rachmaninow, von Beethoven bis Satie, von Chopin über den 2008 verstorbenen Mauricio Kagel bis zu zeitgenössischen Komponisten scheint es kaum etwas zu geben, was ihn nicht interessiert. Nachdem Tharaud 1989 beim ARD-Musikwettbewerb in München einen zweiten Preis gewonnen hatte, erreichte der heute 51-Jährige größere überregionale Bekanntheit erstmals 2001, als er Suiten von Jean-Philippe Rameau auf Platte vorlegte. Damit brach er ein Tabu, schien doch die Musik des französischen 17. und 18. Jahrhunderts im Zuge der historischen Aufführungspraxis fest in die Hände der Cembalisten übergegangen zu sein. "Ich bin wahrscheinlich der erste Pianist", sagt Tharaud, "der sich am Ende des 20. Jahrhunderts wieder mit dieser Musik beschäftigt hat." Nicht ohne Stolz beobachtet er, dass sich seitdem auch jüngere Pianisten wieder der Musik der "Clavecinisten" widmen. Im vergangenen November ist Tharaud mit dem Album "Versailles" noch einmal an den französischen Hof zurückgekehrt, gefolgt in diesen Tagen von einer Platte, auf der er drei Klavierkonzerte spielt, die er bei zeitgenössischen Komponisten in Auftrag gegeben hat. Das längste darunter ist "Left, alone", ein Klavierkonzert für die linke Hand des Komponisten Hans Abrahamsen, das inzwischen zum Klassiker zu avancieren scheint. Seit der Uraufführung im Jahr 2016 hat es Tharaud mit neun unterschiedlichen Orchestern gespielt, so auch bei seinem jüngsten Auftritt im Dezember in München mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Sein Vater war Operetten-Sänger bevor er einen Brotberuf ergriff und Automechaniker wurde

Dass es, was die Werbung angeht, nicht besonders geschickt ist, zwei derart unterschiedliche Alben (beide bei Erato) innerhalb eines Vierteljahres zu veröffentlichen, weiß Tharaud selbst. Es ist ihm egal, weil er mit der Vielfalt durchaus ein klares Ziel verfolgt: Er möchte einer Verengung des Repertoires entgegenwirken, die er mit zunehmender Sorge beobachtet. Auch bei seinen Klavierabenden kombiniert er immer wieder ungewöhnliche Musik aus unterschiedlichen Epochen, wobei er aus einer eingestandenen Angst vor Gedächtnislücken prinzipiell von Noten spielt. Schließlich macht die Globalisierung auch vor dem Klavierspiel nicht halt. Bei den Reihen für international reisende Pianisten, sagt Tharaud, stünden heute überall auf der Welt dieselben Stücke auf dem Programm. "Das ist vor zwanzig Jahren noch anders gewesen."

Schon deshalb räumt er dem auch hierzulande oft vernachlässigten französischen Repertoire einen besonderen Stellenwert ein, hat neben Debussy und Ravel auch Klavier- und Kammermusik von Emmanuel Chabrier, Camille Saint-Saëns, Darius Milhaud oder Francis Poulenc eingespielt. "Französische Solisten sind dafür verantwortlich, französische Musik zu spielen", sagt Tharaud. Die Komponisten seines Heimatlandes empfindet er als "eine große Familie", in der Stil-Ideale über die Jahrhunderte weitergegeben wurden. Man verstehe Chopin besser, sagt er, wenn man berücksichtige, dass dieser die Musik Rameaus selbstverständlich auf den Instrumenten seiner Zeit gespielt habe.

Wahrscheinlich hätte Tharaud sich nicht ausgerechnet das Klavier ausgesucht, wenn er als Kind eine Wahl gehabt hätte. Schließlich ist er im Theater aufgewachsen, wo man sich gern als große Familie begreift. Seine Mutter war Tänzerin und Choreografin unter anderem an der Pariser Oper, der Vater Sänger in Operetten und Opéras-comiques, bevor er zum Wohl der Familie in einen Brotberuf wechselte und Automechaniker wurde. "Ich fühle mich von allem angezogen, was mit der Bühne zusammenhängt", sagt Tharaud, der auch schon an prominenter Stelle selbst als Schauspieler zu erleben war. Der Regisseur Michael Haneke besetzte ihn in seinem Film "Liebe" als erfolgreichen Pianisten "Alexandre", der seiner von Emmanuelle Riva gespielten, vom Tod gezeichneten Klavierlehrerin noch einmal privat zuhause vorspielt. Auch von sich aus sucht Tharaud immer wieder die Zusammenarbeit mit Künstlern über Genre-Grenzen hinweg, bringt etwa mit Filmemachern Videoclips zu seiner Musik heraus. Für "Barbara", sein wahrscheinlich ungewöhnlichstes Album, versammelte er Musiker und Schauspieler aus unterschiedlichsten Bereichen wie Juliette Binoche, um gemeinsam der deutsch-französischen Chansonette Barbara zu huldigen. "Ich wollte zeigen, dass ein klassischer Pianist auch von einer Chansonsängerin beeinflusst werden kann", sagt Tharaud. Als echtes Theaterkind macht er keinen Unterschied zwischen dem vermeintlich Seriösen und dem vermeintlich Unterhaltsamen. Die Bühne, sagt er, sei für ihn bis heute der einzige Ort, an dem er sich wirklich wohl fühle. "Im Vergleich fühlt sich das reale Leben für mich oft wie eine Fälschung an." Dabei meidet Tharaud in seinem Klavierspiel alle theatralen Effekte, charakteristisch zu nennen wäre eher eine noble Distanz. Französisch geprägt scheint das Stilideal, in dem sich schnörkellose Klarheit der Darstellung mit elegant nuancierten Farbmischungen verbindet.

Im Vergleich mit der Bühne "fühlt sich das reale Leben für mich oft wie eine Fälschung an"

Dass Tharaud sich nie vorschnell der Emotion ausliefert, kann in schwächeren Momenten ein wenig glatt wirken. In den starken dagegen spürt man auf berührende Weise die Melancholie, die hinter dem Abstand steckt. Tharaud weiß, dass er als Pianist in der Regel allein auf der Bühne ist, auch wenn er Konzerte immer wieder mit Kammermusikpartnern wie etwa dem französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras bestreitet. Aber mit seinen Komponisten hat er sich eine große Familie erspielt, deren Mitglieder auf manchmal verschlungenen Pfaden über vier Jahrhunderte hinweg miteinander verwandt sind. Seine Diskografie, sagt Tharaud, sei für ihn "wie ein großer Bogen mit vielen Steinen", in dem doch alles mit allem zusammenhänge. Man könnte auch sagen: wie ein großer Schlüsselbund, der die unterschiedlichsten Wohnungen aufzuschließen vermag.

© SZ vom 24.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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