Klaus Zeyringer: "Die Würze der Kürze":Adler beißt Löwe die Gurgel ab

Klaus Zeyringer: "Die Würze der Kürze": "Die bedeutung ist Gott bekand": Blitzerfoto einer Taube aus Bocholt. Statt der vorgeschriebenen 30 Stundenkilometer war das Tier im Februar 2019 mit 45 vor den mobilen Radarwagen der Stadt geflattert.

"Die bedeutung ist Gott bekand": Blitzerfoto einer Taube aus Bocholt. Statt der vorgeschriebenen 30 Stundenkilometer war das Tier im Februar 2019 mit 45 vor den mobilen Radarwagen der Stadt geflattert.

(Foto: picture alliance/dpa/Stadt Bocho)

Klaus Zeyringer hoch vergnügliche Geschichte der "Vermischten Meldungen".

Von Hermann Unterstöger

Auch im "Vermischten", heute gern "Panorama" oder "Aus aller Welt" genannt, dürfte es Träume geben, und es könnte leicht sein, dass die dort tätigen Kolleginnen und Kollegen manchmal davon träumen, eine Meldung wie diese ins Blatt zu heben: "Die Krankenschwester Elise Bachmann, die gestern ihren freien Tag hatte, benahm sich auf der Straße wie eine Verrückte." Damit könnte die Woche beginnen, und sie wäre vollends gerettet, wenn am Mittwoch oder Donnerstag Folgendes nachgeschoben würde: "Eine Verrückte wurde gestern auf der Straße festgenommen, weil sie sich fälschlich als die Krankenschwester Elise Bachmann ausgab. Diese erfreut sich bester Gesundheit."

Die Reaktion kann man sich denken. Es gäbe erboste Leserbriefe, und der Chefredakteur würde sagen, dass das überhaupt nicht gehe. Schnurren wie die hier zitierten hat sich einst der Literat Félix Fénéon für die Tageszeitung Le Matin ausgedacht. Sie sind als "nouvelles en trois lignes" (Nachrichten in drei Zeilen) in die Zeitungs- und Literaturgeschichte eingegangen und spielen in Klaus Zeyringers Buch "Die Würze der Kürze" eine bedeutende Rolle. Es handelt sich dabei um ein auf charmanteste Art zweigleisiges Werk, nämlich um eine Pressegeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Vermischten beziehungsweise um eine Geschichte der Vermischten Meldungen im Licht der Presseentwicklung.

Wann hat man "der Zeitung" zum letzten Mal so wohltuend auf die Schulter geklopft?

Um die Weite des erzählerischen Bogens - der österreichische Germanist Klaus Zeyringer wird als Wissenschaftler gerühmt, der zu fesseln weiß - zu skizzieren, so reicht dieser von Kleists charakteristisch verdichteten Sprachkunstwerken in den Berliner Abendblättern bis hin zu dem bitteren Fazit, dass es mit der thematischen und sprachlichen Originalität der Vermischten Seiten heute oft nicht mehr weit her sei. Dazwischen findet sich so viel närrisch Erheiterndes, dass die Versuchung groß ist, Zeyringers Buch nur auf Schnurriges hin abzusuchen. Was natürlich auch nicht verboten ist und viel Genuss schafft, etwa bei Betrachtung des Wiener Originals Poldi Beck, der einst - und nur einmal - die Zeitschrift Die Binse herausgab.

Darin war unter der Rubrik "Gleichgültiges aus aller Welt" zum Beispiel vermerkt, dass der Handelsvertreter Jonas Grün am Dienstag im "Wilden Mann" ein Mittagsmahl eingenommen habe, bestehend aus Schöberlsuppe, Rindfleisch garniert und Apfelstrudel. Fazit: "Es hat ihm sehr gut geschmeckt." Diese Art von Welterfindung wird auf Foren wie dem Postillon weitergeführt, der einmal mit der Meldung "Als Lothar Wessing aus Potsdam am 12. Februar 1993 um 8:12 Uhr aus dem Fenster schaute, traute er seinen Augen nicht" fast bekennerhaft auf Becks und Fénéons Spuren wandelte.

Klaus Zeyringer: "Die Würze der Kürze": Klaus Zeyringer: Die Würze der Kürze - Eine kleine Geschichte der Presse anhand der Vermischen Meldungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 368 Seiten, 30 Euro.

Klaus Zeyringer: Die Würze der Kürze - Eine kleine Geschichte der Presse anhand der Vermischen Meldungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 368 Seiten, 30 Euro.

(Foto: S. Fischer)

Was ihr innerstes Wesen angeht, so hat Zeyringer für die Vermischten Meldungen, die Faits Divers, Kleinen Chroniken und "Leute"-Rubriken ein Zeugnis parat, wie sie es sich schöner und honoriger nicht wünschen können. Sie versetzen, schreibt er, das Geschehen auf eine persönliche Ebene und binden es "an die Nachbarschaft des eigenen Lebens", mit dem menschenfreundlichen Effekt, dass Hinz und Kunz sich, ihresgleichen und ihr Dasein darin erkennen. So schafft, lautet seine Folgerung, "die Zeitung die Brücke zwischen den Weltvorgängen und dem Ich".

Diderot befand: Grundsätzlich sei es nicht Sache der Journalisten, andere zum Lachen zu bringen

Wann hat man "der Zeitung" zum letzten Mal so wohltuend auf die Schulter geklopft? Wie man sieht, hält sich der Jux in Grenzen, sind die verrückte Krankenschwester Elise und Jonas Grüns Mittagsmahl keineswegs die Hauptsache. Um die Journalisten an den Moral ihres Berufs zu erinnern, fingiert Zeyringer ein Treffen von Denis Diderot, David Hume und Baron d'Holbach. Die drei unterhalten sich über dies und das, darunter auch über das große Erdbeben von Lissabon und die daran anzuknüpfende Frage, ob es berechtigt sei, so eine Naturkatastrophe - ein Vermischtes Sujet von gigantischen Ausmaßen - "als moralisches Ereignis zu erklären". Wie zu erwarten, kommt dabei allerlei scharf Antiklerikales und Aufklärerisches zur Sprache, daneben aber auch die Grundsätze, die Diderot in der Encyclopédie für die Journalisten aufgestellt hat: Humor ja, wenn die Sache ihn verträgt, aber grundsätzlich sei es nicht Sache der Journalisten, andere zum Lachen zu bringen.

Dass es die Vermischten Meldungen früher leichter hatten als heute, hängt sicher auch mit der Frage der Glaubwürdigkeit zusammen. Zeyringer berichtet von Anekdoten über Unglücksgeburten von Kindern mit zwei oder mehr Köpfen. Die Berichte darüber wanderten von Blatt zu Blatt, und da konnte es leicht geschehen, dass auch die Köpfe immer mehr wurden (in Frankreich, 1676, waren es sieben). Da es schwer bis unmöglich war, Belege beizubringen, rekurrierte man entweder darauf, dass viele Leute Zeugen gewesen seien oder dass Gott es so gewollt habe.

Die eine Variante sicherte die Nachricht von dem Luftkampf zwischen einem Adler und einem Löwen ab, der 1628 angeblich "von vilen tausent Menschen" beobachtet worden war und bei dem übrigens der Adler dem Löwen "die Gurgel abgebissen" haben soll. Die andere wurde bei einem Blut-und-Schwefel-Regen, der wenig später in Wien herniederging, zur Gewähr herangezogen. "Die bedeutung ist Gott bekand", resümierte die in München erscheinende Wochentliche Ordinari Zeitung. Wer das heute durchgehen ließe, den würde man fragen, wo die Belege dafür seien und warum er, wenn Handfestes gefehlt habe, nicht wenigstens beim österreichischen Wetterdienst angerufen habe.

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