Klaus Lemke beim Filmfest München:Bombe, Baby!

Klaus Lemke

Klaus Lemke, Kult-Filmemacher aus München.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Klaus Lemke filmt seit mehr als vierzig Jahren mit seinen kleinen, wilden Low-Budget-Produktionen gegen den inzestuösen Branchen-Zirkus an. Nun versöhnt sich der ewige Guerrillero mit München und seinem Filmfest.

Von David Steinitz

Zunächst einmal: diese verdammten Rolling Stones. An einem lauen Berliner Juniabend steht Klaus Lemke an der Potsdamer Straße im Niemandsland zwischen Mitte und Kreuzberg, raucht eine Ausnahmsweise-Zigarette und wartet auf seine Crew. Mit der wird er gleich für einen typischen Lemke-Guerilla-Dreh auf einer Vernissage nebenan einfallen, wo die anwesenden Hipster noch nichts von ihrem Statisten-Glück ahnen. Die Wartezeit überbrückt er mit Fluchen über das Stones-Konzert vor zwei Tagen auf der Waldbühne. Wo diese Rock'n'Roll-Ausverkäufer exakt zu der auf den Tickets angegebenen Uhrzeit angefangen haben. Da saß er noch in der S-Bahn, weil es früher ja auch nie pünktlich losging. Sagt Lemke, der seine Schauspieler sofort feuert, wenn sie auch nur eine Minute zu spät zum Dreh kommen. Ein strenger Blick aufs Handy: 21.59 Uhr.

Ausgerechnet der Prinzipien-Mann Lemke lässt sich in dieser Woche nun vom Filmfest München mit einer Hommage ehren. Ein Festival, das er in den letzten Jahren nicht weniger rigoros beschimpft, bekämpft und verhöhnt hat als die deutsche Filmförderung, die Berlinale und überhaupt die ganzen Idioten, die sich ihre mediokre Selbstbefriedigungskunst mit Steuergeldern bezahlen lassen.

Gegen den inzestuösen Branchen-Zirkus filmt er seit mehr als vierzig Jahren mit seinen kleinen, wilden Low-Budget-Produktionen an, die beim Münchner Festival bis vor Kurzem unerwünscht waren - was auch einer der Gründe ist, warum der Schwabinger Kino-Rebell Lemke gerade seinen dritten Film in Folge in Berlin dreht. Weil die Heimatstadt sich ein bisschen tot angefühlt hat. Deshalb will man jetzt natürlich wissen, wie Festival und Filmemacher nun doch zueinander gefunden haben.

Ein Drehbuch gibt es traditionell nicht

Vorher aber gibt es Lemke live. Und zwar: "ausnahmsweise, Dicker!". Denn Besucher will er eigentlich nicht am Set haben. Weil es bei ihm kein überwältigendes Vorzeige-Set gibt, mit Scheinwerfer- und Wohnwagenwahnsinn, sondern in erster Linie eben: Lemke-Zauber. "Das macht die Leute misstrauisch, weil sie es gewöhnt sind, als Erstes nach dem Cateringwagen zu suchen."

22.00 Uhr. Lemke zündet sich eine weitere Ausnahmsweise-Zigarette aus der Wirklich-Ausnahmsweise-Schachtel an, und endlich ist Paulo da. Die Crew. Paulo ist ein schmächtiger Portugiese, der ein wunderbar hamburgisches Deutsch spricht, und der sich um die Digitalkamera und den Ton kümmert - neben Lemke die einzige Person hinter der Kamera. Paulo arbeitet so schnell und so unauffällig, dass er und seine Darsteller jederzeit und überall loslegen können, auf der Straße, in Cafés, Kneipen und Clubs. Ein Drehbuch gibt es traditionell nicht, es wird nach Lemkes ungefährer Idee für eine Geschichte improvisiert. Nie im Studio, immer draußen, in der echten Welt.

Heute also: Hipster-Vernissage. Durch ein knarzendes Treppenhaus geht es rauf ins Getümmel einer Altbauwohnungsgalerie. An den hohen, halbverputzten Wänden hängen Fotografien aus der Abteilung Selfie-Kunst, davor tummelt sich zugezogenes Berliner Jungvolk. Die Jungs tragen weit ausgeschnittene T-Shirts und haben keine Brusthaare, die Mädchen tragen Röcke, so kurz wie ihre Biografien - ideales Lemke-Terrain.

Hier pulsiert etwas, was der 73-jährige inmitten seiner Altersgenossen beim Stones-Konzert sehr vermisst hat: naive Lebenslust statt kuratierter Nostalgie. Und diese Lebenslust kann der alte Lemke bis heute oft wilder, ehrlicher, romantischer einfangen als viele jüngere Kollegen. Das merken auch seine Darsteller sehr schnell, die in der Regel Laien sind, wie zum Beispiel die 21-jährige, wildgelockte Leila Lowfire, die jetzt von Paulo verkabelt wird. Gerade die Lemke-Girls kennen natürlich den Show-Lemke, der sich nur sehr ungern fotografieren lässt, wenn nicht ein paar hübsche Mädchen mit im Bild sind. Aber sie wissen auch, dass er die Mädchen in seinen Filmen nie zu reinen Pin-Ups macht, sondern zu romantisch-tragischen Heldinnen, die den Jungs stets haushoch überlegen sind und sich für das wilde Leben sehr weit aus dem Fenster lehnen.

Das alles mitten in der schwitzenden Menschenmenge

Heute möchte Lemke, dass Leila mit einem Partybesucher knutscht, weil sie sauer auf ihren Film-Freund ist - auch wenn er gerade noch nicht ganz sicher ist, wie das in den Gesamtfilm passen wird. Und wie immer hat Lemke keine Casting-Karteien gewälzt, um Nebenfiguren zu besetzten. Das muss jetzt vor Ort passieren, und er überlässt es Leila, die genau die Länge einer halben Ausnahme-Zigarette braucht, um einen Knutschpartner zu finden.

Während die meisten Regisseure nun vermutlich einen Herzinfarkt bekämen, weil ständig Leute durchs Bild wuseln, Lichter an und aus gehen und lauter Elektro dröhnt, läuft Lemke genau jetzt zur Höchstform auf. Unbeirrt springt er um Paulo und seine Darsteller herum, ruft knappe Anweisungen ("richtig ran, Cowboy!"), läuft durchs Bild, postiert seine Leute blitzschnell für einen zweiten und dritten Take neu. Und das alles mitten in der schwitzenden Menschenmenge, die erst kapiert, dass hier gedreht wird, als es schon vorbei ist. Lemke ruft: "Bombe, Babies!". Die Aufnahmen schaut er sich gar nicht erst an, weil er schon beim ersten Versuch genau den Beat gespürt hat, den er haben will. Dann bekommen alle ihre fünfzig Euro Tagesgage, die jeden Abend in bar ausgezahlt wird - und er steht wieder draußen auf der Potsdamer Straße.

Erst noch den nächsten kleinen, fiesen Film

Am nächsten Mittag stochert Klaus Lemke zufrieden in seinen Penne Arrabiata bei seinem Lieblingsitaliener in Mitte, wo sich die blonde Berliner Bedienung alle fünf Minuten erkundigt, ob bei den Signori auch noch "allet tutto bene" ist. Und rekapituliert von Berlin aus, warum es in München erst einen neuen Oberbürgermeister, eine neue Filmfestchefin und einen neuen Kurator fürs deutsche Kino gebraucht hat, bis er und das Filmfest endlich zusammen gefunden haben.

Lemke liebt München ja, trotz allem - und gerade deshalb muss er es auch manchmal hassen. Zum Beispiel weil jener kürzlich verrentete OB laut Lemke mit dem Festival das machen wollte, was mit dem deutschen Theater längst passiert sei: es mit Steuergeldern erlegen, ausstopfen und musealisieren, bis es leblos und ungefährlich ist.

Diese Politik habe bei den ehemaligen Festivalverantwortlichen dazu geführt, dass für jene kleinen, wilden Filme, wie Lemke und andere sie machen, kein Platz mehr gewesen sei. Weshalb das Terrorkommando Lemke beschloss, sich mit einer seiner Schauspielerinnen und einem Protestschild für mehr Freiwild-Kino in München neben dem Roten Teppich zu postieren. "Das hat keine Sau interessiert - nur Senta Berger, die plötzlich einen Fotografen aufgefordert hat, nicht sie zu fotografieren, sondern den komischen Lemke da hinten." Mittlerweile aber: "Alles Bombe!".

München, die Heimatstadt, hat sich viele Jahre einfach nur tot angefühlt

Das liegt, sagt Lemke, in erster Linie an der Arbeit des neuen Filmfest-Kurators für das deutsche Kino, Christoph Gröner, der das Festival wieder zu einem Experimentierfeld jenseits "dieser mittelständischen TV-Ware" gemacht habe- und den er bereits als künftigen Leiter der Berlinale sieht. Einen kleinen Denkzettel für München konnte er sich dann aber doch nicht verkneifen. Denn Lemke, der diese merkwürdig bourgeoise-proletarische Stadt in den Siebzigern und Achtzigern erst miterfunden hat, wie sonst höchstens noch Helmut Dietl und der Klatschreporter Michael Graeter, hat für die Filmfest-Retro ausgerechnet fünf seiner Hamburg-Filme ausgewählt, von "Rocker" (1972) bis "Dancing With Devils" (2010).

Erstaunlich an dieser Auswahl ist außerdem, dass Lemke, der wirklich kein Nostalgiker oder Melancholiker ist, weil er sonst nicht bis heute die Filme machen könnte, die er macht, mit ihr einen sehr großen Geist aus der Vergangenheit beschwört: Sylvie Winter, ehemals Fotomodell von wesentlich geheimnisvollerer Schönheit als Uschi Obermaier und der Star in drei der frühen Lemke-Filme, war drei Jahren lang seine Muse und Gefährtin - und kommt nun nach diversen spirituellen Umwegen aus ihrer amerikanischen Wahlheimat ebenfalls zur Lemke-Retro nach München. Die beiden haben sich seit sehr vielen Jahren nicht gesehen.

Wenn man ihn auf die alte, große Liebe anspricht, wird Lemke, der die Anekdoten aus den wilden Zeiten über die Jahre in perfekte Aphorismen verwandelt hat, auf die er ständig zurückgreift, plötzlich ganz still.

Zuvor hat er noch geschliffen und pointensicher referiert, wie damals die ganze Mannschaft, von Fassbinder über Rudolf Thome bis Lemke selbst, nach den fiesen, großartigen Debütfilmen erst dem Kokain und dann dem Blödsinn anheimfiel. Weshalb die große Party leider sehr schnell wieder zu Ende war, weil die Deppen vom Fernsehen und die steuergeldgeilen Nischenfilmer und Manifeste-Schreiber den Laden übernommen hätten. Jetzt, auf die Frage nach Sylvie Winter, antwortet er lieber ausweichend.

Zum Beispiel, dass es ihm immer sehr gut gefallen habe, das die Garbo irgendwann einfach nicht mehr aufgetreten sei. Im Radioprogramm des Mitte-Italieners säuseln jetzt auch noch die Bee Gees. Der Appetit auf die Penne Arrabiata hat sich erledigt, lieber noch eine letzte Ausnahme-Zigarette vor der Tür. Irgendwie ist es aber trotz der plötzlichen Melancholie auch beruhigend zu sehen, das selbst Lemke, der sonst weniger melancholisch wirkt als die meisten Mittzwanziger, seine kleinen Kämpfe mit der Vergangenheit austrägt. Sie wohl auch austragen will, sonst hätte er sich nicht mit Lust auf diese bevorstehende Filmfest-Veranstaltung eingelassen.

Vor München und dem Festival und Sylvie wird er aber erst noch seinen nächsten kleinen, fiesen Film fertig drehen, hier im großen, fiesen Berlin-Mitte, der in schön-ster Lemke-Manier "Unterwäsche-Lügen" heißen wird.

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