Süddeutsche Zeitung

Klassische Musik:Schreckliche Verführer

Hier heißt das Stück "Rattle, Isolde und Tristan" - in Baden-Baden melden die Berliner Philharmoniker das absolute Primat gegenüber Sängern und Regie an.

Von Reinhard Brembeck

Die Nacht brodelt. Sie lockt, erschreckt und krallt sich an jeden, der sich unvorsichtigerweise in ihre Nähe begibt. Die Albträume der schlafenden Vernunft, die Goya malend in seinen "Caprichos" und Novalis dichtend in den "Hymnen an die Nacht" beschwor, sind in Richard Wagners "Tristan" Klang geworden: Selten ist das so verstörend zu erleben wie jetzt bei Simon Rattle in Baden-Baden. Dieser Dirigent und seine Berliner Philharmoniker melden - wie könnte das auch anders sein? - das absolute Primat gegenüber Sängern und Regie an und setzen es konsequent durch, dabei gleichsam durch Schrecken verführend. In Baden-Baden heißt das Stück eindeutig "Rattle, Isolde und Tristan". In dieser Reihenfolge.

Rattle ist ein Dirigent, der mit dem traditionellen deutschen Geraune aus dem Orchester(-graben) nichts anfangen kann. Das hatte vor Jahren die Gralshüter dieser Ästhetik zu Protesten veranlasst. Sie verstummten. Dabei verleiht Rattle seinem aufklärerisch analytischen Klangdenken, das jedem Brimborium abhold ist, mittlerweile weit mehr Gefühl und Eleganz, als er ihm früher gewährte. Für diesen Ansatz sind die Berliner mit ihrem brillanten und etwas vorlaut kühlen Klang ideal.

Seit Rattles Amtsantritt vor vierzehn Jahren entwickelte sich dieses Orchester zum modernsten Ensemble seiner Art. Behäbiges, Bräsiges, Klobiges und Geschlamptes, die Kehrseiten der alten deutschen Orchesterästhetik, sind in keinem Moment zu beklagen. Rattle, ein Intellektueller unter den Musikern, dirigiert rückhaltlos aus dem Geist des Librettos. So evoziert er mehr als die Sänger und der Regisseur die Komplikationen dieser tödlich endenden Liebesgeschichte in all ihren Facetten, Umbrüchen und Schrecknissen.

Schon die Lautstärke der Truppe ist gigantisch. Aber schlagartig finden die Musiker in feinste Tremologewebe, es klagen wunderschön die Celli, mürben und mahnen Fagott, Klarinette, Oboe: "Tristan" ist ein Holzbläserstück par excellence. Rattle entdeckt in den so häufig achtlos als nebensächliche Akkordausschmückungen gespielten Streichergirlanden Melodiefragmente, die ganz genau umrissene Emotionen bedeuten. Das ist grandios.

Obwohl der Dirigent all die fein gearbeiteten Motiv- und Klangkombinationen der Partitur akribisch genau vorführt, vergisst er darüber nie den Fluss und die Eleganz. Vor allem aber verleiht er seiner analytischen Lesart Magie und Geheimnis. Stimmiger und überzeugender kann man nicht beweisen, dass Gefühl und Intellekt nicht nur kein Gegensatz, sondern zwei gleichwertige Verwirklichungen von Menschsein sind.

Ein Zerstörer zieht durch die Nacht, und es sind Mörder darauf

Auf der Bühne arbeitet Stephen Milling (Marke) konsequent auf Rattles Niveau. Er konstruiert aus kleinen Mosaiksteinchen und bis in die fein gesungenen Flexionen der Sprache hinein das Porträt seines von Tristan wie Isolde gleicherweise betrogenen Königs. Hier Sadismus und Macht, da die Weinerlichkeit und Greisentum, dort die Ahnung einer durch das Herrschen korrumpierten Menschlichkeit. Auch Eva-Maria Westbroek, mit lodernder, nicht immer völlig kontrollierter Stimme, zeigt sich stark von Rattle animiert. Ihre Isolde ist agil und anfangs bis zum Selbstmord verzweifelt. Eine entwurzelte Frau, sie findet sich erst in der Amour fou zu Tristan.

Regisseur Mariusz Treliński zeigt eine bösartige Militär- und Männerwelt auf einem modernen Zerstörer. Alles ist Dunkel, Meereswogen und Aussichtslosigkeit. Der Schiffskapitän Tristan ist nicht nur ein beneideter Held, sondern auch ein gemeiner, tückischer Mörder. Doch Isolde liebt diesen widersprüchlichen Menschen, dessen Verrätereien niemand versteht. Leider gilt das auch für den Sänger des Tristan, Stuart Skelton, selber. Er betört zwar in den lyrischen Passagen durch eine von Sehnsucht imprägnierte Stimme. Wird das Orchester aber lauter, wird hemmungslose Leidenschaft gefordert, hat er nicht viel zuzusetzen. Das aber ist für diese Extrempartie viel zu wenig, erst recht im Finalakt, in dem sich Tristan eine dreiviertel Stunde lang in den Tod deliriert. Aber es gibt ja Rattle und die Berliner, die diese Agonie mit schonungslosem Realistismus, als Todeskampf mit all seinen Widerwärtigkeiten schildern.

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SZ vom 29.03.2016
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