Süddeutsche Zeitung

Frauenanteile in der klassischen Musik:Eine Harfenistin macht noch kein Orchester

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In den großen Ensembles könnte sich eine freie, gleichberechtigte und arbeitsteilige Gesellschaft spiegeln. So weit sind wir noch lange nicht, wie eine aktuelle Studie zur Rolle von Frauen in der klassischen Musik zeigt.

Von Reinhard J. Brembeck

Es ist doch nur eine Zahl. Unlängst hat das in Fragen der Musik akribisch recherchierende MIZ, das Musikinformationszentrum, eine Studie zu den 129 durch öffentliche Gelder geförderten Orchestern in Deutschland vorgestellt. Es ist eine Zahl, die sehr deutlich macht, welche untergeordnete Rolle Frauen nicht nur hierzulande in der klassischen Musik spielen. Dabei geht es nicht um die prekäre Lage von Musikerinnen unter Seuchenbedingungen, nicht um Subventionen, Stellenabbau oder Streichungen. Es geht um Wesentlicheres, es geht um den Anteil der Frauen in deutschen Orchestern, allesamt Spitzenensembles, in denen fast 10 000 Menschen musizieren. Knapp 40 Prozent von ihnen sind Frauen. Es ist nur eine Zahl, aber die ist eine Schande. Warum? Weil sie nicht nur die Benachteiligung von Frauen in der angeblich so schönen Klassikwelt dokumentiert, sondern auch dem ursprünglichen, aber bis heute nicht eingelösten Grundgedanken des Prinzips Orchester widerspricht.

Um das zu verstehen, ist ein Blick auf die Geschichte des Orchesters hilfreich. Bei den Altgriechen bezeichnete "orchestra" erstaunlicherweise keine Menschengruppe, sondern den kultischen Tanzplatz, erst vor einem Dionysos-Altar, dann später vor der Bühne im ebenfalls Dionysos geweihten Theater. Hier agierte der Chor, der Strophenlieder sang, Kommentare abgab, disputierte, tanzte. Der Chor des Griechentheaters steht für den gern überschätzten gesunden Menschenverstand, er artikuliert Stammtischängste und tiefe Einsichten, Zweifel und Skrupel, Allerweltsweisheiten und Ethisches. Als eine Männertruppe, auch Frauen wurde damals wie zu Shakespeares Zeiten von Männern gespielt, hochspezialisierter Könner formt der Chor die Athener Gesellschaft en miniature ab. Es ist eine Demokratie, in der die Frauen am Herd gar nichts zu sagen hatten und mehr als drei Viertel der Menschen Sklaven waren.

Zur Urbesetzung kamen aus der Militärmusik Trompeten, Posaunen, Schlagwerk

Dann geriet das Wort Orchester in Vergessenheit. Erst das barocke Frankreich entdeckte es wieder und wendete es erstmals nicht auf den Spielort an, sondern auf eine Ansammlung von Instrumentalisten. Solch ein Ensemble hieß bis dato Kapelle, ein Begriff, der heutzutage noch in der Volksmusik gängig ist. Kapelle meinte alle Musiker, Sänger wie Instrumentalisten, die an einer Kirche, an einem Hof als Dienstboten arbeiteten. Denn lange Zeit gaben sich die Komponisten, wenn überhaupt, mit vagen Partituranweisungen zufrieden, wer was zu spielen hatte.

Das änderte sich grundlegend im späten Barock. Johann Sebastian Bach schreibt in seinen Ensemblestücken genau hin, für wen er komponiert. Allerdings gibt es bei ihm die reizvollsten und unterschiedlichsten Combos, eine Standardbesetzung war ihm noch fremd. Die setzt sich erst nach und nach durch, gleichzeitig mit der um wissenschaftliche Standardisierung bemühten Aufklärung. Zu einem mehrfach besetzten Streichquintett gesellte sich, das geschieht wohl wieder erstmals in Frankreich, ein Solistenquintett aus Flöte, Klarinette, Oboe, Fagott und Horn. Das ist die Urform des modernen Orchesters, bis heute unverändert. Trompeten, Posaunen und Schlagwerk sind eine Erbschaft aus der Militärmusik. Zwar versuchten später einige Komponisten, dieses starre Korsett zu erweitern, integrierten Ophikleide und Saxofon, Konzertflügel und Glockenspiel, Ondes Martenot und Singende Säge. Doch keines dieser Instrumente konnte sich als fester Bestandteil des Orchesters durchsetzen. Weil die vor 250 Jahren erfundene Besetzung klanglich alles bietet, was nur denkbar ist? Weil die Klassik ein konservatives Geschäft ist, das sich nur ungern neuen Tendenzen ergibt?

Nun versteht sich ein Orchester von Anfang an als ein Abbild der Gesellschaft. Es werkelt anders als die Generalisteninstrumente Klavier und Orgel arbeitsteilig. Auch das ist ein seit der frühen Industrialisierung massiv auftretendes Phänomen. Also lässt sich aus keiner Instrumentalstimme allein das gemeinte Ganze ablesen, erst die Zusammenarbeit lässt das entstehen. Freiheit, Gleichheit, Schwester- und Brüderlichkeit sind deshalb das revolutionäre Ideal auch eines Orchesters. Doch zumindest letzteres Kriterium ist bis heute nicht umgesetzt.

Mit steigendem Renommee des Orchesters sinkt der Anteil von Frauen in höheren Positionen

Die erwähnte Untersuchung dokumentiert nicht nur eine zu niedrige Frauenquote in den von öffentlicher Hand unterstützten Orchestern, sondern auch noch weitere schaurige Details. 128 heißt das Magazin der Berliner Philharmoniker, weil dort nominell so viele Musiker und Musikerinnen beschäftigt sind. Im Moment sind 22 von ihnen Frauen, der Taschenrechner schämt sich, die Quote zu bestimmen. Das ist szenetypisch und stimmt mit den Daten der eingangs erwähnten Studie zusammen. Dort heißt es: "Mit steigendem Renommee des Orchesters und höherer Stimmposition wird deutlich: In Spitzenorchestern" - und mehr Spitze, als es die Berliner sind, geht nicht - "ist der Anteil an Frauen in höheren Dienststellungen mit 21,9 Prozent besonders niedrig." Dem entspricht, dass zwar etwas mehr als die Hälfte der einschlägigen Orchester einen "überdurchschnittlichen" Frauenanteil" aufweisen, aber das sind eher die nicht so gut bezahlten Ensembles.

Die meisten Frauen finden sich, wenig verwunderlich, bei den Harfen, die meisten Männer, noch weniger verwunderlich, bei den Tubisten, Posaunisten, Schlagwerkern und Trompetern, weshalb hier der maskuline Plural absolut gerechtfertigt ist. Je besser bezahlt eine Position ist (Konzertmeister, Stimmführer, Solisten), umso weniger Frauen sind da beschäftigt, von den 206 ersten Konzertmeistern, das ist der höchste Rang bei den Streichern, sind nur 62 Frauen.

Das alles spiegelt die üblichen Unarten dieser Gesellschaft im Umgang mit Frauen wider, als da sind schlechtere Bezahlung und systemischer Ausschluss von höheren Positionen. Trotzdem kann sich kein Orchester darauf herausreden, dass es bloß ein Abbild der real existierenden Gesellschaft sei, im Guten wie im Schlechten. Das genügt längst nicht mehr, erst recht nicht in der Klassik, die hierzulande sehr viel Geld von den Bürgern erhält. Schon das verpflichtet, vor allem die Orchester. Die können jetzt nicht mehr der Entwicklung hinterherhinken, sondern müssen Vorreiter sein in puncto Gleichberechtigung und Gleichbezahlung. Nicht nur, weil es der Zeitgeist so will, sondern weil es gerecht und überfällig ist. Letztlich aber auch aus Eigeninteresse. Privilegien geraten zunehmend in die Kritik. Der Klassik, gerade dem Livegewerbe, haftet der Ruf an, konservativ und rückwärtsgewandt zu sein. Da könnte es nicht schaden, wenn sie zumindest in einem Punkt, wenn auch nicht musikalisch, zur Avantgarde gehören würde. Und das Orchester würde damit ja auch nur einen seiner seit 200 Jahren nicht erfüllten Gründungsgedanken Wirklichkeit werden lassen: Gleichberechtigung!

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