Klassische Musik:Mehr Zuspruch denn je

Mehr als 30 000 Zuschauer werden am Samstag am Brandenburger Tor erwartet, wenn die Berliner Philharmoniker dort Beethovens Neunte Symphonie spielen. Was auch zeigt, dass die Klassik eben nicht ausstirbt, sondern boomt.

Von Michael Stallknecht

Kirill Petrenkos Debüt als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker war von vielen lange ersehnt. So sehr, dass es am Samstag vor größerem Kreis wiederholt wird: Am Brandenburger Tor wird Petrenko Beethovens Neunte Symphonie dirigieren. Bis zu 32 000 Zuhörer werden erwartet, wohin die Massen sonst zu den Liveübertragungen von Fußballweltmeisterschaften strömen.

Es gibt nicht wenige Menschen, auch Musikjournalisten, die behaupten, dass die Klassik ausstirbt. Sie verweisen gern auf die Überzahl ergrauter Köpfe in klassischen Konzerten. Wohl auch deshalb hat die Deutsche Orchestervereinigung das Berliner Konzert nun zum Anlass genommen, auf eine Tatsache hinzuweisen, die oft übersehen werde: dass jährlich Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Open-Air-Veranstaltungen mit klassischer Musik besuchten, die in keiner Statistik erfasst würden. 45 000 zum Beispiel allein in diesem Jahr "Oper für alle" an der Berliner Staatsoper und 75 000 das Konzert der Nürnberger Philharmoniker im dortigen Luitpoldhain.

Der Interessensverband hätte ebenso gut auf die Zahlen von Konzertbesuchern verweisen können, die von unabhängiger Seite erfasst werden: Sie wachsen nämlich seit Jahren. Besuchten in der Spielzeit 2000/2001 5,9 Millionen Menschen ein Orchesterkonzert, so waren es 2016/17 schon sieben Millionen. Zur selben Zeit ist die Besucherzahl in den Opernhäusern zwar gesunken, von 4,7 Millionen auf 3,8 Millionen. Dafür schauen sich mehr Menschen die Übertragungen von Opern im Kino an. Auch wer sich nicht auf der Fanmeile am Brandenburger Tor die Beine in den Bauch stehen mag, kann Petrenkos Konzert allein in Berlin in elf Kinos verfolgen.

Dabei ist natürlich richtig, dass in durchschnittlichen Konzerten das ältere Publikum überwiegt. Doch daraus folgt nicht, dass sich Jüngere nicht für Klassik interessieren, eher dürften sich darin ganz normale lebensgeschichtliche Entwicklungen spiegeln. Viele schaffen es erst dann, regelmäßig ins Konzert zu gehen, wenn die Studentenzeit vorbei ist und die Kinder schon heranwachsen. Weil sie sich den Besuch dann zeitökonomisch und finanziell eher leisten können.

Vor allem bedeutet es nicht, dass weniger Menschen überhaupt klassische Musik hörten. Sieht man die Sache langfristig, haben sowieso viel mehr Menschen Zugang zu den klassischen Werken als jemals zuvor. Brauchte man im 19. Jahrhundert noch viel Geld oder mindestens Fähigkeiten im Klavierspiel, um sich mit ihnen vertraut zu machen, so genügt heute ein Mausklick oder die Playlist, die auch Klassik enthält. Dass diese Angebote genutzt werden, zeigt eine Studie, die der Klassikstreamingdienst Idagio für acht große Länder erstellen ließ. Danach ist Klassik das weltweit viertbeliebteste Genre. 35 Prozent aller Menschen hören klassische Musik, davon sind dreißig Prozent unter 35 Jahren alt.

Dabei gestehen dem historischen Repertoire der Klassik selbst jene Menschen eine besondere Werthaltigkeit zu, die keine Konzerte besuchen. Dieser Nimbus kann Hemmschwellen für einen Konzertbesuch erhöhen. Er sorgt aber auch dafür, dass die Klassik immer dann ran darf, wenn es ums große Ganze geht. Zum Beispiel, wenn die Berliner Philharmoniker mit ihrem Konzert zugleich des dreißigsten Jahrestags des Mauerfalls gedenken, zu dem weiland schon Leonard Bernstein Beethovens Neunte in Berlin dirigierte. Die Deutsche Bank übrigens hat zeitgleich angekündigt, ihre Kooperation mit den Berliner Philharmonikern bis ins Jahr 2025 fortzusetzen. Man darf ziemlich sicher sein, dass sie ihr Geld nicht für etwas ausgäbe, was im Aussterben begriffen ist.

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