Klassische Musik:Klang der Stille

Rebecca Saunders

Rebecca Saunders - Siemens-Preisträgerin mit Gespür für Pausen.

(Foto: Rebecca Saunders, Berlin 2019 © EvS Musikstiftung)

Rebecca Saunders ist die erste Komponistin und zweite Frau, die den Ernst-von-Siemens-Preis bekommt. Es ist ein Sieg für das Hören, das ihre Musik erzeugen kann.

Von Henrik Oerding

Lauter kann Stille kaum klingen, als in Rebecca Saunder's "Fury". Der Solo-Kontrabass schält sich aus dem Nichts heraus, erst nur mit einem Ton. Schnell traktiert der Bassist sein Instrument, schlägt gegen den Steg, reißt an den Saiten, hält immer wieder für Sekundenbruchteile inne. Man muss das gehört haben: Kopfhörer aufsetzen und sich achteinhalb Minuten dem Bassklang hingeben. Und dann: Auf Pause drücken und in die Stille hineinhören, die plötzlich laut wird. Dank der Komponistin Rebecca Saunders.

Saunders bekommt in diesem Jahr den Ernst-von-Siemens-Musikpreis verliehen, der mit 250 000 Euro dotiert ist. Aber um das Preisgeld geht es nicht, sondern um die Nachwirkungen. Manche bezeichnen ihn als "Nobelpreis der Musik". Mit vergangenen Preisträgern wie Benjamin Britten, Leonard Bernstein oder Helmut Lachenmann ist der Siemens-Musikpreis besonders für zeitgenössische Komponisten eine wichtige Ehrung.

Wenn im Juni Saunders den Siemens-Musikpreis in München überreicht bekommt, ist sie erst die zweite weibliche Preisträgerin, dazu die erste geehrte Komponistin. Bis die Violinistin Anne-Sophie Mutter 2008 ausgezeichnet wurde, waren alle Preisträger Männer. Das ist symptomatisch für den Klassikbetrieb, in dem Frauen erst Ende des vergangenen Jahrhunderts vermehrt in die Orchester gelassen wurden, in dem bis heute Komponistinnen wie Fanny Hensel oder Lili Boulanger kaum aufgeführt werden, in dem Männer lange meinten, "Me-Too" gäbe es hier nicht, und in dem Fälle wie James Levine oder Gustav Kuhn doch das Gegenteil zeigten.

Stille zum Werkzeug zu machen durchzieht die "Neue Musik" des 20. Jahrhunderts nicht erst seit John Cage

Der Preis für Saunders ist aber nicht nur für die Gleichberechtigung ein Gewinn, sondern auch für die Musik. Denn ihre Kompositionen sind zwar komplex. Man muss sich auf sie einlassen, sie kommen weitgehend ohne Melodie aus. Dann erschließen sich aber Werke von hoher Intensität, "Molly's Song 3" für Alt-Flöte, Bratsche und Gitarre etwa, bei dem plötzlich das mechanische Rauschen von vier Radios in das Stück hereinbricht, nur um von einer zarten Spieldose abgelöst zu werden. Der Schlussmonolog der Molly Bloom in James Joyce' Ulysses hat die drei "Songs" inspiriert. Immer wieder taucht auch Samuel Beckett auf, der Schriftsteller des Ungesagten, der in "Warten auf Godot" immer wieder Schweigen auf der Bühne forderte. Die Stille verbindet Beckett und Saunders.

Saunders lebt heute in Berlin. Schon im Elternhaus der 1967 in London geborenen Komponistin war viel Musik zu hören, die Eltern Pianisten, die Großmutter auch, der Großvater Organist. Als Kind lag Saunders manchmal unter dem Flügel des Vaters, genoss die Resonanzen. Sie studierte Komposition, erst in Edinburgh, dann in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm. "Seine Musik besaß für mich eine tiefe Sinnlichkeit und auch einen äußert komplexen und faszinierenden Umgang mit Klangfarben", zitiert die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung Saunders. Sie gewann 1996 den Förderpreis der Stiftung, weitere Preise folgten. Inzwischen arbeitet sie mit wichtigen Akteuren wie der Musikfabrik oder dem Ensemble Modern zusammen. Mehr als 60 Werke hat sie geschaffen. Seit 2011 ist sie in Hannover Professorin für Komposition.

Klang zum obersten Prinzip zu erklären und Stille zum Werkzeug zu machen, sind natürlich keine neuen Ideen. Sie durchziehen die "Neue Musik" des 20. Jahrhunderts nicht erst seit John Cage und "4'33''. Bei Saunders aber trägt die Stille die Musik, "sie rahmt den Klang", schreibt die Komponistin. Jede Pause bekommt durch die Musik vor und nach ihr eine Bedeutung. Eine ebenso wichtige Rolle spielt der Körper im Raum für Saunders' Musik. Sie komponiert die Körperbewegungen ein, die die Klänge erzeugen, gibt genau vor, wie die Musiker die Kompositionen ausführen sollen. Mit Sasha Waltz erarbeitete sie die choreografierte Installation "insideout", für den Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie und die Kirche Saint-Eustache in Paris entstand 2017 "Yes".

"Yes" bezieht sich ebenfalls auf den Schlussmonolog in Ulysses, auf die letzten Worte von Molly Bloom, bei Joyce ein nicht endender Gedankenstrom. Saunders lässt eine Sopranistin Textschnipsel singen, 19 Instrumentalisten begleiten sie. Die Musiker sind im Raum verteilt und wechseln ihre Plätze. Dazwischen die Hörer, ganz im Klang. Es gibt Momente, in denen die Sopranistin feine Netze aus Tönen spinnt und andere, in denen sie heiser zu ersticken scheint. Sie haucht, rollt, hetzt durch Text. Alles strebt auf die tiefen Basstöne, die die letzten Worte der Sopranistin begleiten. Und dann: Stille. Stille so laut, dass sie diesen höchsten Preis sehr verdient hat.

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