Klassische Musik:In Schönheit erstarrt

Dirigent Thielemann

Christian Thielemann hat das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dirigiert.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentral)

Dirigent Christian Thielemann gibt sein Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Von Helmut Mauró

Wahrscheinlich sind die Klassenunterschiede innerhalb des Klassik-Publikums jetzt noch größer, als sie durch die Sitzordnung im Live-Konzert gegeben sind. Denn nicht alle dürften über eine private Tonanlage im mittleren fünfstelligen Eurobereich verfügen und über die Räumlichkeiten, einen optimalen Surround-Sound zu installieren. Zudem konnte man der Versuchung unterliegen, das Konzert aus dem Münchner Gasteig, bei dem Dirigent Christian Thielemann sein Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gab, im gleichzeitigen Video-Streaming zu verfolgen, was den Klang noch mehr einschränkte. Eine weitere Möglichkeit bot sich durch die Übertragung im Deutschlandfunk, aber exakte Gleichzeitigkeit von Radio- und TV-Übertragung oder Stream ist wohl nicht zu lösen.

Hat man zur Zeit von Richard Strauss im symphonischen Rauschen in Mono möglicherweise intensiver zugehört?

Ebenso unsicher: die musikalischen Auswirkungen der Corona-Abstände insbesondere auf die Klangentfaltung. Manchmal sind es frei schwebende planetarische Gebilde, und manchmal sehr enge Zangengeburten. Optimal ist anders, auch wenn man beim BR voraussetzen kann, wirklich das technisch Beste auf die Beine zu stellen. Aber das sind dann manchmal doch eher Botschaften aus der Intensivstation als eine gesunde Körperlichkeit. Das Problem wird bleiben, und für einen kurzen Augenblick überlegt man, ob zur Zeit von Richard Strauss nicht ein symphonisches Rauschen in Mono möglicherweise intensiveres Hören ermöglichte, weil man so sehr auf die eigenen Klangvisionen angewiesen war, weil man viel aktiver dabei sein musste als im Wunderland des Surround-Sounds, wo man sehr passiv wird und sehr verwöhnt. Das ist der Moment, in dem der BR-Moderator sich darüber lustig macht, dass manche in der Kunst mehr suchen und finden als Unterhaltung. Eine Frage der Einstellung, und die Musik von Strauss ist nach der von Mozart vielleicht das beste Beispiel dafür, dass man das Komplexteste und Tiefsinnigste als puren Spaß verkaufen kann. Vielleicht hat Strauss deshalb Mozart so abgöttisch verehrt.

Jedenfalls ist die zur Eröffnung des Abends vorgetragene "Wiener-Philharmoniker-Fanfare" gleich die Probe aufs Exempel. Richard Strauss hatte sie 1924 für den ersten Philharmoniker-Ball komponiert, und zwar, wie ein Augenzeuge überliefert, "während einer Direktionssitzung des Vereines Salzburger Festspielhausgemeinde". Hier ist wieder der BR-Moderator gefragt, der dem staunenden Hörer erzählt, der Wiener Opernball sei "ein Dschungelcamp für B-Promis", ein Treffpunkt "für Krethi und Plethi", während man, falls man eingeladen sei, auf dem Philharmoniker-Ball die Crème de la Crème des internationalen Kulturlebens träfe. Gleichwohl ist man gegenüber dieser Komposition etwas misstrauisch geworden, nachdem die Anmoderation länger dauert als die Musik selbst. Das erweist sich aber sogleich als unbegründet. Die BR-Bläser bieten, bis auf einen etwas unsicheren Hornisten, einen brillant knackigen Einstieg in das, wie soll man sagen, etwas diffizile Unterhaltungsprogramm.

Denn vor Robert Schumanns formal auch etwas zerrüttete "Symphoniette" - wie er das Arrangement aus Ouvertüre, Scherzo und Finale nannte, worüber sich der Dirigent im Pauseninterview köstlich amüsiert - haben die Programmgötter noch ein launisch-sperriges Werk von Strauss gesetzt. Das passt zur depressiven Lage der Nation, ist aber vielleicht doch ein wenig skurril. Es ist das sehr späte Werk des sehr alten Richard Strauss, der musikalisch mit der Welt schon abgeschlossen hatte, als er 1943 seine F-Dur-Sonatina für Bläserensemble schrieb und sie "Aus der Werkstatt eines Invaliden" nannte. Dabei hätte es nicht einmal der Weltkriegssituation bedurft, damit sich Strauss als Invalide fühlte, als Verwundeter in Exitus-Kämpfen am Ende einer tausendjährigen Musikgeschichte, wie er seine Situation wohl auch empfand. Wie er sie in seinen Opern, zum Teil aber auch in seinem Instrumentalschaffen selbst herbeigeschrieben hat.

Vielleicht nächstes Mal mehr Schumann? Bei dessen Musik hat Thielemann Fragen, da interessieren ihn Details

In den letzten Werken schlägt die große Wehmut der Abschiede oft in kühlen Fatalismus um, ein letzter Trost, der nicht einmal diesen mehr behauptet. So kreist auch diese Holzbläsersonatine um sich selbst, in engeren und weiteren Zirkeln, die lange Zeit undurchbrechlich erscheinen. Ein Fluchtweg ist nicht vorgesehen, die vielfältig kombinierten Bläserklänge wechseln immer wieder in farbarme Grautöne, erbleichen gleichsam angesichts der Ausweglosigkeit.

Diese Handgelenksübung "ohne jede musikgeschichtliche Bedeutung, für die Öffentlichkeit ohne jegliches Interesse", wie Strauss die komplexe Komposition gar nicht kokettierend nannte, ist aber etwas mehr. Sie ist auch eine kleine Rückschau geworden. Alles Mögliche aus dem eigenen Schaffen klingt heraus, natürlich auch die große Abschiedsoper des Rosenkavaliers. Es lässt einen nicht kalt, aber Thielemann läuft wie so oft Gefahr, alles in Schönheit erstarren zu lassen. Es fehlt der melodische Zug, und die ständigen Harmoniewechsel, das Dauerfeuer enharmonischer Umdeutungen, erscheinen oft blass eingebremst. Das repetitive rhythmische Motiv bleibt oft verstecktes Beiwerk statt metrisches Movens. Das kann man farbiger und spannender nachhören in Thielemanns Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden. Vielleicht nächstes Mal mehr Schumann? Bei dessen Musik scheint sich Thielemann nicht ganz so wohlzufühlen, da hat er Fragen, da interessieren ihn Details, die man sonst so stimmig oft gar nicht hört. Da wird es spannend und aufregend.

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