Klassische Musik:Das letzte Konzert

Die Wiener Philharmoniker und Dirigent Andris Nelsons müssen ihren Beethoven-Sinfonien-Zyklus in München abbrechen. Dabei war der Auftakt grandios.

Von Reinhard J. Brembeck

Klassische Musik: Andris Nelsons in Aktion.

Andris Nelsons in Aktion.

(Foto: Jan Woitas/AFP)

Der Unvollendete: Nachdem zu Beginn der Woche eine Reihe europäischer Staaten Veranstaltungen mit über 1000 Menschen im Raum coronabedingt verboten hatten, erfolgten am Mittwochnachmittag Klassikkonzertabsagen und Saalschließungen im Minutentakt. Mit davon betroffen war auch der vierteilige Zyklus der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens, mit dem die Wiener Philharmoniker zusammen mit Dirigent Andris Nelsons gerade durch Europa touren. Im Münchner Gasteig waren die Wiener an zwei Abenden bis zur Fünften, zur Schicksalssinfonie gekommen, als das behördlich verordnete Aus eintraf und einen Traum beendete.

Die Wiener Philharmoniker wären theoretisch ideal für diese neun Stücke, die zwischen 1799 und 1824 in Wien komponiert und aufgeführt wurden. Doch die Wiener Philharmoniker entstanden erst in der Romantik 1842 als ein privater Zusammenschluss von Hofopernmusikern. Sie sind bis heute ein Privatverein und ein romantisches Orchester. Das ist in ihrer vor zehn Jahren entstandenen Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien mit Christian Thielemann unüberhörbar. Während alle anderen Weltorchester sich unter dem Einfluss von Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner und Pierre Boulez für die Moderne und die historische Aufführungspraxis öffneten, für kleine Besetzungen, genaue Beachtung der Partituranweisungen, zügigere Tempi, verweilten die Wiener lange bei einer romantischeren Sicht der Dinge: voller Gefühl in die Breite und Tiefe zielend, die ganze Welt umarmend.

Dann aber kam Andris Nelsons ins Spiel. Der 1978 in Riga geborene Musiker ist, das lässt sich nach dem Münchner Beethoven-Zyklus-Torso ohne jede Übertreibung sagen, der heutigste, freieste und eigenständigste unter den ganz großen Konzertdirigenten. Nelsons arbeitet derzeit als Musikchef in Boston und am Leipziger Gewandhaus. Mit den Wienern hat er die Beethoven-Sinfonien schon vor einem Jahr auf CD herausgebracht, jetzt wollte dieses Dreamteam Europa von sich und Beethoven überzeugen. In München haben sie aufgeben müssen.

Nelsons und die Wiener entwerfen via Beethoven ein modernes Menschenbild

Unter Nelsons erfinden sich die Philharmoniker neu, sie kehren zu den Anfängen zurück. Sie, die die historische Aufführungspraxis großzügig übersprungen haben, formulieren zumindest in den ersten vier Sinfonien den Beethoven-Goldstandard für die Post-Harnoncourt-Ära. Mag Nelsons noch so rasante Tempi nehmen, immer unterspielen diese fabelhaften Musiker ihr Können und ihre Virtuosität. Nie klingt das Ensemble brillant und hochgezüchtet. Denn immer legen sie Wärme und Schmäh mit in ihr Spiel, die ihnen böse Menschen als Schlamperei ankreiden. Aber das ist es nicht. Sondern Humanität. Die Wiener, Nelsons liegt da genau auf ihrer Line (oder sie auf seiner?), bringen das Kunststück fertig, den übermenschlichen Anspruch Beethovens mit menschlichem Maß auszusöhnen.

Titanentum und Häuslichkeit, Wahnwitz und Geborgenheit, Entfesselung und Innigkeit: All das ist gleichzeitig hörbar. So entwerfen Nelsons und die Wiener via Beethoven ein modernes Menschenbild. Dieser Idealmensch, egal ob Frau oder Mann, ist kraftvoll, klug und oft hinreißend witzig, er ist agil, rücksichtsvoll, draufgängerisch, auch schwärmerisch, visionär und liebevoll. Nie zeigt er sich fanatisch, nie driftet er in die Vereinzelung ab. Hate Speech oder Das-Volk-sind-wir-Attitüden sind ihm so fremd wie das Schielen auf den bestmöglichen Deal. Da tritt kein Blender auf, sondern ein diesseitiger Realist, der die kleinen Dinge verzaubert, aber dem großen Schaubudenzauber misstraut.

Die Streicher ertrinken nie in einem jenseitsweltlichen Schmelz, sie sind geerdet, angeraut und immer präsent. Elysisches, bloß um der Schönheit Schönes gibt es an diesen beiden Abenden nie zu hören. Die Bläser, Holz wie Blech, stimmen in diesen Grundton ein, ohne wie bei so vielen anderen Spitzenorchestern je die Streicher zu übertönen. Auch die Hörner sind so gar nicht glatt, sondern immer naturherb und hinreißend im heiklen Mittelteil des Eroica-Scherzos.

Nelsons organisiert den Klang immer im Vordergrund. Er macht die Details alle hörbar, er stuft die Instrumentalgruppen und die sich subtil dahineinfindende Pauke genau und stets flexibel. "Das atmende Klarsein" heißt eines der späten faszinierenden Stücke Luigi Nonos, der Text ist von Rainer Maria Rilke: Genau das steht in leuchtenden Großbuchstaben von unsichtbarer Hand geschrieben über diesen beiden Konzertabenden.

Keine Konserve kann das erregte Mitfiebern von 2000 anwesenden Hörern ersetzen

In den motorischen, Barockes beschwörenden Passagen, in den kontrapunktischen Fugati, in den Klangteppichen wird manchmal schlagartig klar, was Dmitri Schostakowitsch sich bei Beethoven ausborgte. Und nicht nur in den Scherzi und Menuetten schwingt die musikantische Urtümlichkeit und Lebenslust kleiner Dörfer im europäischen Osten mit. Oder ist das sogar eine melancholische Reminiszenz an die niedergemordete Welt des Schtetl? Nelsons kann seine ganz auf Vielgestalt setzende Lesart völlig natürlich und schlüssig klingen lassen, er lässt sich nie zum Forcieren, Überbetonen oder Umwerten verführen. Beethovens 200 Jahre ferne Welt ist ihm hörbar in jeder Wendung nah und vertraut. Aber Nelsons selbst ist ein Mann, der mit beiden Beinen und ohne zu Fremdeln im Krisen-Corona-Jahr 2020 steht. Das ermöglicht ihm einen sensationellen Spagat zwischen dem Damals und dem Heute. Der Hörer hat das Gefühl, auf eine Zeitreise mitgenommen zu werden, auf der er entdeckt, dass ihm die Beethoven-Zeit genauso nahe ist wie die seine. Was eine Illusion ist, weil der Hörer das Damals nur durch die Brille Nelsons zu sehen bekommt.

Schon am ersten und erst recht am zweiten Abend verdichtet sich beim Publikum das Gefühl, etwas Grandioses zu erleben, was aber nicht zu seinem Abschluss kommen wird. Nur wenige Stunden vor dem dritten Konzert kommt die Absage, auf deren Ausbleiben ein jeder gehofft hat. Was jetzt tun? Die CDs anhören? Der Rezensent jedenfalls traut sich nicht, die Platten mit den Sinfonien Sechs bis Neun in den CD-Player zu schieben. Aus Angst enttäuscht zu werden, aus dem Wissen heraus, dass das erregte Mitfiebern von 2000 gleichzeitig anwesenden Hörern doch essenziell zu einem Konzert dazugehört. Das kann keine Konserve ersetzen. Also lieber das Unvollendete als das größte mögliche Glück hinnehmen.

Dieser Text ist zuerst am 13. März 2020 in der SZ erschienen.

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