Klassik:Die Alben des Jahres

Klassik: Immerhin eine Frau ist unter den sechs Komponist(inn)en: Olga Neuwirth, Brett Dean, Uri Caine, Mark-Anthony Turnage, Steven Mackey und Anders Hillborg.

Immerhin eine Frau ist unter den sechs Komponist(inn)en: Olga Neuwirth, Brett Dean, Uri Caine, Mark-Anthony Turnage, Steven Mackey und Anders Hillborg.

(Foto: Nikolaj Lund/Brandenburg Project)

Es ist nicht leicht, sich für die Musik zu entscheiden, die einem das schwierige Jahr 2021 leichter gemacht hat. Aber wenn es denn sein muss:

Von Reinhard J. Brembeck, Harald Eggebrecht, Helmut Mauró und Wolfgang Schreiber

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Wahnsinn, Teufelswerk, Froschquaken

György oder Jean-Philippe, Rameau oder Ligeti, "Platée" oder Klavieretüden? Die Frage, welches Klassikalbum das abgelaufene Seuchenjahr besonders erträglich gemacht hat, lässt sich nicht entscheiden. Und muss auch nicht entschieden werden, schon aus musikalischen Gründen. Hat sich nicht Claude Debussy durch seinen Vorgänger zur "Hommage à Rameau" anregen lassen und Rameaus Geist dann auch in den "Études" beschworen, die unüberhörbar eine Inspirationsquelle für Ligetis 18 Etüden sind, einem der ganz wenigen Klavierwerke nach 1945, die auch das breite popaffine Publikum faszinieren können? Voilà, so einfach und verschlungen kann Musikgeschichte sein. Nach den von Cathy Krier luminös und vulkanisch gespielten Ligeti-Zyklus (Avi) wirkt die "Platée" wie eine genauso aufgedrehte ältere Schwester. Platée wird von einem Mann gesungen, in William Christies Aufnahme (Harmonia Mundi) gibt Marcel Beekman diese hässliche Nymphe, die glaubt, dass ihre (echte) Liebe zu Jupiter erwidert würde, aber der Götterchef macht sich nur einen bösen Spaß. Wahnsinn, Teufelswerk, Froschquaken, Unordnung, Wirbel, Atemlosigkeit und Lebensjubel ist beiden Stücken Lebenselixier. Und Ligeti gibt sich alle Mühe, auf nur einem Klavier jenes Feuerwerk zu veranstalten, das Rameau mit seinen schnell wechselnden Tänzen, Kurzarien, Choreinwürfen und Sturmmusiken entfacht: immer exaltiert, immer melancholisch, immer verführerisch. Mit diesen beiden Alben wird sich auch der feuerwerksfreie Silvesterabend wunderbar durchstehen lassen. Reinhard Brembeck

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Bach-Experiment

Klassikmusik ist Weltmusik, global der Künstlermarkt, aus Alt plus Neu erblühen die Mixturen. Ein Däne hat die tolle Idee: The Brandenburg Project. Dirigent Thomas Dausgaard will die sechs legendären Konzerte Johann Sebastian Bachs den ausgefransten Hörgewohnheiten entreißen und bestellt bei fünf lebenden Komponisten und einer Komponistin neue Stücke, die er waghalsig zwischen die Bach-Konzerte einschiebt. Für die Kontrastinszenierung präsentieren die Tonsetzer also jeweils experimentell Neues, wie gefordert, in den diversen Originalbesetzungen Bachs. Die Uraufführung war 2018 in London bei den BBC Proms. Jetzt ist das Projekt beim Label Bis auf drei CDs erschienen.

Aufreizend, wie die US-Amerikanerin Maya Beiser mit ihrem Cello hochemotional die "Antwort" des britischen Komponisten Marc-Anthony Turnage auf Bachs erstes Konzert erzwingt. Stephen Makey lässt den Trompeter Hakan Hardenberger Klangfarben erfinden, die weit über Bachs zweites Konzert hinausgehen. Spannung pur bei der improvisatorischen Tonausbeute des Schweden Anders Hillborg, spektakulär der Geiger Pekka Kuusisto. Extravagant fetzig "Aello" der Österreicherin Olga Neuwirth, ein dadaistisches "ballet mécanomorphe". Uri Caine spielt die Soli seines Stücks "Hamsa" selbst, das dem fünften Brandenburgischen Bachs freizügig folgt. Und der Australier Brett Dean lockt Tabea Zimmermann und die Musiker des "historisch" aufspielenden Schwedischen Kammerorchesters mit seinem "Approach" riskant, ohne Atempause, in die tiefen Streichergräben von Bachs sechstem Konzert. Lauter Hörabenteuer. Wolfgang Schreiber

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Große Söhne

Bevor Daniil Trifonov zur Großtat von Johann Sebastian Bachs "Kunst der Fuge" schreitet, widmet er sich auf seinem Album "Bach - The Art of Life" (DG) den Bach-Söhnen, etwa Johann Christian, Wilhelm Friedemann, Johann Christoph. Und je näher er ihnen musikalisch kommt, desto mehr gewinnen sie an Größe. Das gilt auch für Carl Philipp Emanuel, dem bis heute berühmtesten unter ihnen. Dessen Klavierkompositionen haben nicht nur Mozart nachhaltig beeindruckt, was man in mehreren Mozart-Sonaten hören kann, sondern offenbar auch darüber hinaus bis Beethoven nachgewirkt. Der Umgang mit Pausen, das unvermittelte Innehalten des musikalischen Flusses findet man in Carl Philipp Emanuels c-Moll-Rondo nicht nur als launischen Einfall, sondern bereits als konzeptuelles Muster. Trifonovs didaktischer Ehrgeiz hält sich dabei in Grenzen. Er überlässt die Entdeckerfreude dem Hörer, den er allerdings lieber auf ganz andere Fährten führt. Auf solche nämlich, die zum Kern des Stückes führen und gleichzeitig so eng an das eigene Hörbewusstsein, dass beides in eins zu fallen scheint. Der Pianist macht uns zu seinem Bewusstseins- und Empfindungskumpan. Das gelingt ihm vor allem dadurch, dass er sich als Person zurücknimmt. Trifonovs urmusikalische Lust an handwerklicher Präzision und Ausdrucksgenauigkeit heben ihn aus der Menge gewesener, gegenwärtiger und nachwachsender Talente heraus. Diese musikalische Intelligenz verlebendigt die Konstruktionsmeisterschaft von Bachs "Kunst der Fuge" zu fast schon allgemeinverständlicher Musikkunst. Helmut Mauró

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Zehn mal Beethoven

Sie sind eine Welt für sich, die zehn Klavier-Violine-Sonaten von Beethoven: zwei Dreier-Pakete op.12, 1-3, op.30. 1-3, dazwischen zwei Gegensatzwerke op. 23 und op. 24, die berühmte "Frühlingssonate", und als Krönung ein Doppelkonzert für Klavier und Violine op. 47, die kampflüsterne "Kreutzersonate". Damit hatte Beethoven in neun Sonaten vorgeführt, wie zwei Instrumente zu gleichwertigen Dialogpartnern emanzipiert werden. Das tat er mit abrupten Plötzlichkeiten, dynamischen Überraschungen, überfallartigen Impulsen, Inseln der Innigkeit in den langsamen Sätzen, rasenden Finali mit heftigen Akzenten und rhythmischen Attacken. 1812, zehn Jahre nach der "Kreutzersonate", ließ er sich noch einmal bewegen zu einem völlig andersartigen Nachtrag für diese Kombination, op. 96, ein Wunder an improvisierender Gelassenheit, heiterer Luftigkeit, lyrischer Kantabilität, aber auch kauzig- kessem Witz. Ein Stück, als entstehe die Musik beim Schlendern und lustvollen Verweilen in heller Landschaftlichkeit. Alle Abenteuer, Gefühlswechsel und Verblüffungen in diesen Sonaten, durchleben und erfüllen der große Geiger Frank Peter Zimmermann und sein imponierender Klavierpartner Martin Helmchen in ihren drei Alben (BIS) so feurig-virtuos wie beispielhaft frei, herrlich direkt im Zugriff, versonnen und empfindsam in den langsamen Sätzen. Kein Akzent, harmonischer Schock, kein Steigerungsfuror entgeht der blitzenden Wachsamkeit, tollen Reaktionsschnelligkeit und Geistesgegenwart der Musiker. Ein allseits funkelnder Beethoven-Schatz wird da in die Gegenwart gehoben. Harald Eggebrecht

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