Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Zuspitzung der Genusswelt

Aktuelle Veröffentlichungen mit Franco Fagioli und Tobias Kratzers Bayreuth-Inszenierung.

Von Helmut Mauró

Er ist derzeit einer der virtuosesten, stimmprächtigsten Countertenöre: Franco Fagioli, 1981 in Argentinien geboren, seit ein paar Jahren schon auf den großen Bühnen der Welt zuhause. Sein Gesang, dem klassischen Belcanto gleichwohl näher als der barocken Gewitztheit und elaborierten Gefühlskünstelei. Was nicht bedeutet, dass er im barocken Kastratenfach nicht glänzt. Die Aufnahme von vierzehn Bravourarien des bedeutenden, in Neapel wirkenden Opernkomponisten Leonardo Vinci - nicht verwandt mit dem bildenden Künstler ähnlichen Namens - beweist dies eindrücklich. Die Leichtigkeit und Wendigkeit, mit der Fagioli auch noch die haarsträubendsten Koloraturen abfeiert, suchen ihresgleichen. Diese CD (DG) macht Freude und verführt den Hörer zu weitergehender Beschäftigung mit einem Komponisten, der an den großen Opernbühnen leider nicht mehr vorkommt.

Seit mehr als zwanzig Jahren begeistert er auf den Opernbühnen der Welt: Der polnische Tenor Piotr Beczala versammelt auf seinem neuen Album "Vincerò!" 18 Highlights der italienischen Oper - viel Puccini, aber auch Cilea und Giordano (Pentatone). Aufgenommen wurde im letzten Oktober in Valencia, es begleitet das örtliche Orchester. Das Ganze ist natürlich ein wunderbar eitles Schaulaufen des Opernstars; es sind trotz seines Alters noch kaum Spuren des Verschleißes zu hören. Möge dies noch eine Weile so bleiben.

Nach der nicht durchweg geglückten Serie von Mozart-Opern - womit er der Parallelunternehmung mit dem Dirigenten Yannick Nézet-Séguin nicht nachsteht - liefert der vielfach bewunderte und mit Hochspannung als SWR-Chefdirigent erwartete Teodor Currentzis nun eine muntere, frische, sehr nachvollziehbare Version von Beethovens Fünfter Symphonie (Sony). Wenig Schicksal, viel geistreiche Musik. Aus dem orchestralen Schlachtschiff ist ein eleganter Segler geworden. Currentzis verlässt sich ganz auf seinen musikalischen Instinkt und den der Musiker seines Orchesters Musica Aeterna. Und das ist gut so. Dabei rückt er - ganz ohne didaktischen Zeigefinger - die schillernde Instrumentation in den Vordergrund, die aus einem aufgearbeiteten Particell eine echte Symphonie macht. Man kann dieses Werk nun wieder von der Muss-Man-Nicht-Mehr-Hören-Liste streichen.

Gleiches gilt für Modest Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" in der kongenialen Instrumentation von Maurice Ravel, dargeboten auf alten Instrumenten vom Ensemble Les Siecles und Francois-Xavier Roth (harmonia mundi). Der Dirigent schafft es, jedem Instrument eine eigene Persönlichkeit zuzugestehen, und so treten sie dann auch als individuelle Klangcharaktere auf, die sich nicht mehr zu einem großen Brei verrühren lassen, sondern in ihrer Eigenart bezaubern.

Besser als gar nicht dabei gewesen zu sein ist dieser filmische Bayreuth-Mitschnitt von Richard Wagners "Tannhäuser" (DG) allemal. Der "Tannhäuser" spielt hier zwischen Schnellimbiss und Natursehnsucht, ein bisschen schrill und ein bisschen neben der historischen Spur, so scheint es. Das war aber nicht das eigentliche Problem der teils umjubelten, teils anständig bebuhten Bayreuther Aufführung von 2019. Natürlich muss der Regisseur Tobias Kratzer abstrahieren und aktuell bebildern. Aber wie schafft er es, den Zuschauer auf seine Seite, in seine assoziative Bildwelt zu ziehen? Durch bunte Unterhaltung? Allein damit wohl nicht, und das ist auch nicht der eigentliche Kern der Regie, mag sie noch so clownesk auftreten. Kratzer versucht, die Opernfiguren zu konkretisieren, zu vermenschlichen, indem er ein Alltagsleben konkretisiert, das aktuell gültig und nachvollziehbar ist. Die theatralische Zuspitzung der oberflächlichen Genusswelt auf eine etwas dümmliche Fast-Food-Welt beleidigt zwar sicherlich die Mehrheit der im Zuschauerraum anwesenden anspruchsvollen Genießer, aber, und das ärgert sie dann wahrscheinlich noch mehr: im Grunde ist die Lebensart, die auf Genusssucht basiert, die gleiche. Das wird im Verlauf der Oper immer deutlicher. Die erstklassige Sängerbesetzung mit Stephen Gould in der Titelrolle, Elena Zhidkova als Venus und Lise Davidsen als Elisabeth - sowie das unter Valery Gergiev fabelhaft agierende Festspielorchester - helfen vielleicht doch, das Unbehagen an der Regie nach und nach zu zerstreuen.

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Quelle:
SZ vom 09.06.2020
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