Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Vorbei ist vorbei

Mit Aufnahmen ist es wie mit Konzerten: Nur der erste Eindruck zählt, jede Wiederholung (bei Konzerten anders als bei Aufnahmen unmöglich) bedeutet die Begegnung mit etwas Bekanntem.

Von Harald Eggebrecht

Magie des Augenblicks: Um sie zu erleben, lässt sich auf die Musik im Hier und Jetzt einer tatsächlichen Aufführung ein. Das heißt, man hofft immer auf jenes Darüberhinaus, das Surplus, das dann im Gedächtnis haften bleibt oder prägend wirkt in dem Bewusstsein, so werde man dergleichen nie wieder hören. Wesentlich dabei ist, dass die gespielte und wahrgenommene Musik auf immer verschwindet, so wie eben erklungen ist sie unwiederholbar, einmalig. Dieses Wissen um die Einmaligkeit der jeweiligen Aufführung, ob gelungen oder nicht, lockt immer wieder Publikum an, denn es könnte ja sein, dass gerade in diesem Sonatenabend oder jenem Symphoniekonzert der erhoffte Glücksmoment, der unerwartete Schauer, die plötzliche Erschütterung durch die Musik eintreten könnte. Insofern stimmt es, Musik habe ein wenig mit Fußball zu tun, als Sepp Herberger auf die Frage, warum die Leute zum Fußball gingen, antwortete: "Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht."

Das gilt auch im Zeitalter avanciertester Aufnahmetechniken, denn eine CD kann höchstens beim ersten Eindruck überraschen, schon das zweite Anhören ist reine Wiederholung des schon Gehörten und so fort. Das unheilbare Dilemma zwischen der nichtreproduzierbaren Einmaligkeit des jeweiligen musikalischen Prozesses und seiner Fixierung durch eine Aufnahme wird seit hundert und mehr Jahren diskutiert. Dabei ist es ziemlich einfach: hier die Gegenwart eines Konzerts, das man miterlebt, dort immer Vergangenheit, selbst wenn man dabei gewesen ist. Das schilderte eine Besucherin der Kammermusiktage in der über tausend Jahre alten Bergkirche in Büsingen am Hochrhein, einer kleinen akustischen Wunderkammer für maximal 220 Personen, wie begeisternd und verjüngend sie das Konzert der blutjungen Perkussionisten des Colores Trio in der Kirche erlebt habe. Doch auf der dann begierig gekauften CD habe alles nur beiläufig und flach gewirkt.

Kein Wunder, dass Musiker da hin und hergerissen sind. Manche schätzen deshalb am ehesten Live-Mitschnitte und keine ausgefeilten Studioproduktionen. Das Kammermusikfestival Spannungen im Wasserkraftwerk Heimbach in der Eifel dokumentiert so schon seit vielen Jahren, was dort zu erleben wäre, wenn man dabei gewesen wäre. Unter den jetzt herausgekommenen Konzertmitschnitten von 2018 besticht eine feurige Aufführung des Streichoktetts von Reinhold Glière, der von 1874 bis 1956 lebte, und dessen bedeutendster Schüler Sergei Prokofjew war. Glière hat ein reiches Œuvre in allen Genres hinterlassen. Sein Oktett schrieb er mit 20 Jahren. Da steht er in bester Gesellschaft, denn das Oktett aller Oktette schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy mit 18 und der geniale rumänische Tausendsassa George Enescu legte sein Oktett mit 19 vor. Und Dmitri Schostakowitsch lieferte zwei Oktettsätze mit 19, die ebenfalls in Heimbach gespielt wurden. Auch Glières Stück ist von jugendlichem Schwung, der Erzählfreude und dem Spaß an virtuosen Herausforderungen geprägt und wird von den "Heimbachern" (B. Kang, Y. Lee, G. Gergova, F. Donderer, Violine; H. Weinmeister, T. Ridout, Viola; T.Tetzlaff, A. Gerhardt, Violoncello) bravourös, saftig, doch nie dick hingelegt. (Avi-music)

Ein großes Verdienst von Aufnahmen liegt allerdings darin, dass unbekannte oder vergessene Komponisten so gewissermaßen eine Überlebenschance bekommen, wenn sie schon nicht mehr im Konzertleben eine Rolle spielen. Das Valentin Klavierquartett (Isabel Lhotzky, Piano; Inka von Puttkamer, Violine; David Ott, Viola; Hanno Kuhns, Violoncello) hat sich mit zwei Quartetten von Johann Wilhelm Wilms beschäftigt, der von 1772 bis 1847 lebte. Angesichts der Schatten, die die Riesen der Wiener Klassik warfen, hatte Wilms mit seinen versiert komponierten, melodiösen und liebenswürdigen Stücken nur in einer nicht langen Phase seines Lebens öffentliche Aufmerksamkeit für sich. Immerhin lobte ihn E.T.A. Hoffmann, obwohl auch der auf die Riesen hinwies. Jedenfalls zeigt das Valentin-Quartett, wie viel spieltechnische Eleganz und kammermusikalischer Geist in dieser ambitionierten Musik steckt. (cpo)

2018 räumte beim ARD-Wettbewerb im Fach Viola ein junger Mann alles, was es an Preisen gab, in einer dermaßen souveränen Weise, in alle Richtungen staunenswerten Artistik und mit einem tiefen musikalischen Verständnis gesegnet so ab, dass alle, die dabei waren, wussten, dieser Diyang Mei ist eine Sensation. Seine Debüt-CD zeigt, dass das letztjährige Staunen berechtigt war: Ob Bachs Violin-Ciaccona oder Paul Hindemiths Passacaglia und gar György Ligetis teuflische "Chaconne chromatique" - Diyang Mei spielt die Verschiedenartigkeit dieser Stücke grandios charakteristisch aus. (Genuin)

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SZ vom 03.09.2019
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