Die Einteilung von Geschichte in Epochen soll der Orientierung dienen. Zugegeben, das gilt auch für die Musikhistorie. Aber kaum steigt man intensiver in die Zeitläufte, etwa zwischen den Monumentalzeiten von Barock und Klassik oder Romantik und Moderne ein, dann beginnen die scheinbar unverrückbaren Epochengrenzen sehr durchlässig zu werden. Dann ist etwa Carl Philipp Emanuel Bach sogleich nicht mehr nur der sehr begabte Sohn des großen Johann Sebastian, sondern ein höchst eigenwilliger, einfallsreicher, weit in die Zukunft wirkender Komponist von ureigenen Graden. Oder der heute so gut wie unbekannte ungarische Komponist Emanuel Moór, der von 1863 bis 1931 lebte, entpuppt sich als lohnende Entdeckung einer fein gewirkten, virtuos-eleganten Spätestromantik vor dem Ersten Weltkrieg.
C.P.E. Bach hatte noch keine gültige Bezeichnung für seine 1775 bis 1777 veröffentlichten 12 "Sonaten für Cembalo oder Pianoforte mit Begleitung einer Violine und eines Violoncells". Mal nannte er sie Trios, dann wieder Sonaten oder "Trios (es sind zugleich auch Solos)". Jedenfalls markieren diese ausgesprochen witzigen, von rabiaten Plötzlichkeiten in Harmonik, Rhythmik und Dynamik durchgeschüttelten Stücke den Anfang des Genres Klaviertrio. Und gleich so eigentümlich, dass man nicht verstehen kann, warum diese tolle Musik nicht häufig gespielt wird. Das junge Linos Piano Trio (Prach Boondiskulchok, Piano; Konrad Elias-Trostmann, Violine; Vladimir Waltham, Cello) zeigt, dass für diese brillante Musik Virtuosität, Geistesgegenwart und Witz unabdingbar sind. (Avi-Music)
Hört man das viersätzige Konzert für zwei Celli und Orchester D-Dur von Emanuel Moór, bleibt es rätselhaft, dass dieses melodienreiche symphonische Doppelkonzert vergessen wurde. Moór schrieb es Anfang des Jahrhunderts für Pablo Casals und dessen damalige Schülerin und Lebensgefährtin Guilhermina Suggia, die dann groß Karriere machte. Das beginnt mit weit gespannter Kantilene und raffiniert vernetztem Dialogisieren der Solocelli, dem ein gepfeffert virtuoses Intermezzo folgt. Ein intimes Adagio und ein entspanntes Finale vollenden das Konzert. Da und dort klingt es Brahmsisch, manchmal spukt Elgar hinein und auch Klangspiele à la Debussy verfeinern den Orchestersatz. David Stromberg und Sebastian Hess setzen das mit den Nürnberger Symphonikern unter Rudolf Piehlmayer so souverän um, dass Moórs Stück hoffentlich bald viele andere Cellisten ermuntert, es öffentlich zu spielen. (Oehms)
Sie zeigt auf unnachahmliche Weise, welche Klangwunderwelten sich im Zwischenreich der Viola tatsächlich erkunden und erleben lassen: Tabea Zimmermann, sie ist Siemens-Preisträgerin des Jahres 2020. Ihre neueste CD (harmonia mundi) führt mit dem Pianisten Javier Perianes in ein samtenes, manchmal auch rauchiges Klang-Spanien, so dass man süchtig wird nach Tangos von Astor Piazzola und Isaac Albéniz, nach den Zaubereien in Manuel de Fallas "Siete Canciones", wo das Wiegenlied hauchzart dem wilden Polo folgt. Dazu gibt es Stücke von Xavier Montsalvatge, Pablo Casals und Enrique Granados, deren Arrangements alle so klingen, als seien sie ausschließlich und immer schon für die Viola von Tabea Zimmermann gedacht.
Das Beethovenjahr 2020 ist zum Coronajahr geworden. All die vielen Konzertreihen ihm zu Ehren gerieten ins Abseits. Auftritte in leeren Räumen plus Streaming, das war's mehr oder weniger bisher. Und natürlich Aufnahmen. Eine der interessantesten Gesamtaufnahmen der immer unglaublichen Streichquartette, die stets erschreckend neu und wie gerade erfunden wirken, wenn sie ein hervorragendes Ensemble zu spielen versteht, liefert das Kuss Quartett (Jana Kuss, Oliver Wille, Violinen; William Coleman, Viola; Mikayel Hakhnazaryan, Cello). Sie spielten Beethovens Quartette im Herbst 2019 in der Suntory Hall in Tokyo und ließen mitschneiden. Herausgekommen ist ein hell timbriertes, geschmeidiges, wagemutiges Quartettspiel ersten Ranges. (Rubicon) Die frühen Stücke op. 18 leben hier von Liebenswürdigkeit und Überraschungslust, die Rasumowsky-Quartette op. 59 strotzen vor Spielleidenschaft und Einfallsattacken, das Harfen-Quartett op. 74 führt in fremdartigere Gefilde, die schon auf jene absolut eigene Welt verweisen, die Beethoven in den fünf späten Werken zwischen op. 127 und op. 135 erschuf. Die vitale Neugier und musikalische Geistesgegenwart der Kuss-Leute fordern größten Respekt ab.