KlassikkolumneSchon einmal in jeden Abgrund gestürzt

Lesezeit: 2 Min.

Körperlos und sich innerlich auflösend. Leise, aber nie resignierend. Oder sinnlich mit Hang zum Grotesken. Die Männerbilder der Klassik.

Von Reinhard J. Brembeck

Als Romy in der bittersten Minute von Claude Sautets Film "Les choses de la vie" Michel Piccoli fragt, ob er ihr noch etwas zu sagen habe, da setzt der vor einer Woche verstorbene Schauspieler ein gezwungenes Lächeln auf und sagt ganz sanft "Non". Die beiden sitzen im Auto, auf das der Filmregen herabprasselt, und man muss dieses "Non" in der französischen Originalfassung hören, um Michel Piccolis Kunst zu begreifen. Seine Stimme ist fast körperlos, nicht nur in diesem Moment, sondern sogar, wenn er einen Wutanfall bekommt. Das Körperlose der Männer ist typisch für französische Kunst, auch fürs französische Lied, das schlicht "mélodie" heißt. Marc Mauil lon ist der jüngste, spannendste Könner der "mélodie" und führt sein understatementmäßig körperloses Singen bei Gabriel F auré vor, dem französischsten aller Liedkomponisten. Die Platte heißt "Fauré et ses poètes" (harmonia mundi). Nie gibt sich Mauillon vokal aufgedonnert, er agiert wie seine größten Vorgänger Charles Panzéra, Gérard Souzay, Hugues Cuenod, Pierre Bernac, Bernard Krusen. Sie alle sind in Deutschland nie populär geworden, weil ihr Typ Männerbild hier nicht vermittelbar ist: elegant, zurückhaltend, sich innerlich auflösend, schon einmal in jeden Abgrund gestürzt.

Ganz anders präsentiert sich Ivry Gitlis. Der Geiger, er ist einer der ganz großen Musiker, wurde 1922 in Haifa geboren, ist also drei Jahre älter als Piccoli und noch am Leben. Seine schon Jahrzehnte alte Aufnahmen sind nach wie vor interessant und hörenswert, weil sie ein durch und durch modernes Männerbild verkörpern. Gitlis spielt die populären Konzerte von Mendelssohn wie Tschaikowsky genauso wie das große Bartók-Konzert und dessen Solosonate: Er fremdelt in keinem Moment, ist immer präsent sinnlich körperlich, er balanciert zwischen Groteske und klassischer Form. Es gibt keinen Takt, der ihm nicht einleuchtet und der deshalb auch für den Hörer nachvollziehbar ist. Trotz der Präsenz seines Spiels, ist Gitlis nie aufdringlich. Während Piccoli einen modernen Mann gibt, äußerlich ein Beau und innerlich ein zerrissener romantischer Einzelgänger, evoziert Gitlis den zupackenden Mann vergangener Zeiten als einen Traum der Moderne (Ivry Gitlis. The Legend. Profil. Edition Günter Hänssler).

(Foto: N/A)

Immer nur rennen und wandern und gehen. Dmitri Schostakowitsch hält nie inne. Immer geht es vorwärts, nie versagt ihm die Kraft. Immer geht es durch fahle Landschaften, in denen kein Leben möglich ist, es vielleicht nie war. Manchmal rebelliert Schostakowitsch in seinen beiden Violinkonzerten, die jetzt Geigerin Alina Ibragimova zusammen mit Dirigent Vladimir Jurowski aufgenommen hat (Hyperion), er wird im kommenden Jahr Chefdirigent der Bayerischen Staatsoper. Vom Zugriff her spielt Ibragimova wie Gitlis. Jeder Ton trifft den Hörer in die verwundbarste Stelle des Unbewussten. Nein, diese Welt ist nicht lebenswert. Aber was soll Schostakowitsch angesichts seiner Kraft, Ausdauer und Fantasie schon anderes machen als gegen diese Welt anzukomponieren?

Sehr viel näher an Piccoli ist der Komponist Benoît Menut, geboren 1977. Auf "Les îles" (harmonia mundi) erforscht seine Kammermusik brüchige Seelen zwischen Formbewusstsein, Verlorensein, Sehnsucht, Magie, Weltenflucht. Menut komponiert wie Schostakowitsch immer drauf zu, obwohl seine Welt ein Stück schlimmer ist als die seines Vorgängers. So bleibt ihm nur die Intimität. Menuts Protest gegen die Zustände ist leise, nie aber er resigniert nie. Ein Meister der Subtilitäten.

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Das Orchester sitzt auf der Bühne, die Sänger spielen davor, ein paar Requisiten genügen, das Licht ist zentral. Diese Aufführung von Igor Strawinskys Oper " The Rake's Progress" wirkt sparsam wie zu Corona-Zeiten, ist aber schon vor eineinhalb Jahren in Göteburg herausgekommen (Accentus Music). Dirigentin ist Barbara Hannigan, diese Wundersängerin der Moderne, die als Dirigentin genauso wunderbar zu werden verspricht. Strawinsky ist bei ihr herb wie gewohnt, aber er bekommt endlich einmal auch eine Seele, tiefe Gefühle, abgrundtiefe Verzweiflung. Die Balance zwischen schrill und empfunden ist wunderbar. Und die Verzweiflung komplett.

© SZ vom 26.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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