Klassik-Kolumne:Antipode für Igor Levit

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(Foto: Naxos)

Der in Moskau geborenen Boris Giltburg geht Beethovens Klaviersonaten ruhig an - und andere spannende Einspielungen.

Von Wolfgang Schreiber

Ludwig van Beethoven bleibt der Souverän im Quotenkönigtum, auch nach dem Gedenktrubel des 250.Geburtstags. Die Symphonien, die Streichquartette alle abgeklopft und befragt, jetzt noch einmal die 32 unterhaltsam aufrüttelnden Klaviersonaten Beethovens versammelt, gespielt von dem 1984 in Moskau geborenen Boris Giltburg, der als Kind mit der Familie nach Israel kam. Eine Art Antipode des allgegenwärtigen Igor Levit, ebenfalls russischstämmig, in Hannover aufgewachsen. Ein "Gegenspieler" stilistisch, inhaltlich, emotional. Giltburg geht an die Sonaten ganz anders heran: Wo Levit mit Tempo, Rasanz und nervösem Spannungsdruck begeistert oder verstört, bleibt Giltburg ruhig: Tief atmend nimmt er sich Zeit für Klangartikulation, melodische Linienführung, beharrt auf den Eigenheiten musikalischer Charaktere, hört hinein in den Typus eines jeden Satzes.

Giltburgs Non-legato-Kunst ist ebenso beeindruckend wie die rhythmische Freiheit seiner Gestaltung, die selbst im Passagengetümmel der "Appassionata" oder der "Waldstein"-Sonate nie maschinell angedreht wirkt. Hellhörig entfaltet er den Sinn und die Details eines jeden der Sonatensätze. Wie das funktioniert, ist in zwei frühen Rondo-Finalsätzen zu erleben, der Sonate in A-Dur und Es-Dur. Wo viele Kollegen, auch Levit, gewaltig vorwärtsdrängen, betont Giltburg den Charme dieser Sätze, die Beethoven unmissverständlich mit der Aufforderung "Grazioso" versehen hat. Bei den mysteriös gebliebenen fünf letzten Sonaten gelingen Giltburg wahre Wunder musikalischer Reflexion - indem er Beethovens schroff aufeinanderprallenden Ideen ungeschönt, spannungsgeladen zu sich selbst kommen lässt. Hörbar wird da durchaus die Kraftanstrengung der Schwerarbeit an Klaviertasten. Sein Beethoven-Bild untermauert Boris Giltburg mit einem substantiellen Booklet-Essay (Naxos).

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(Foto: ica classics)

Neue Tondokumente gibt's von dem 2016 gestorbenen Dirigenten und Vorkämpfer für die historische Aufführungspraxis Nikolaus Harnoncourt. 1986 hatte er in Graz das Festival "Styriarte" gegründet, machte dort das Chamber Orchestra of Europe zu seinem musikalischen Sprachrohr. Das dynamisch zugespitzte "Sprechen" der Klänge und Formen war ja Harnoncourts Idee und Ziel einer jeden Orchesterarbeit, hier mit den Schwergewichten Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms. Außerordentlich, mit welch feuriger, manchmal gewaltsamer Entschiedenheit Harnoncourt und seine Musiker die Impulse von Haydns Militär-Symphonie oder Mozarts "Posthorn"-Serenade realisieren, nein, beschwören. Der Hörer begreift "Klangsprache" jenseits aller Begrifflichkeit - jedes symphonische Wort auch in Beethoven fünfter, siebenter und Brahms' vierter Symphonie. Plausibilität musikalischen Verstehens plastisch geordnet, makellos (ica classics).

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(Foto: ECM)

Kein Komponist hat seine Musik so stark an die Sprache, ans Sprechen geknüpft wie Leos Janacek - Meister der Erfindung "Sprachmelodie". Der Zyklus Auf verwachsenem Pfade versammelt fünfzehn Stücke für Klavier, die in ihrer schockierenden Knappheit des persönlichen Erinnerungstonfalls mit Mussorgskys herber Dramatik verwandt scheinen. Die neue Bearbeitung des Zyklus (Daniel Rumler), geschaffen für das von Igor Karsko geleitete Ensemble Camerata Zürich, sorgt dafür, dass der Tonraum größer wird, dass das von Streichern bestimmte Szenario der nur gefühlten Jugend des Komponisten in mährischer Landschaft bedeutend an Prägnanz gewinnt. Die düsteren Klangfiguren und scharfkantigen Kontraste auf Janaceks bedrohlichen und schönen Pfaden des Lebens erlangen dadurch mehr klangliche Plastizität und Transparenz als am Klavier. Zusätzlicher Coup der fesselnden Aufnahme sind die Texte, die die französische Schriftstellerin Maia Brami zu Janaceks Zyklus geliefert hat und hier selbst rezitiert: ein anderes Medium der Poesie (ECM).

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(Foto: Sony)

Die sehr speziell kreative, beliebt gewordene Art des Historismus bespielt das Attacca Quartet aus Brooklyn - mit der kaum noch provozierenden Mixtur der Epochen und Stile, von alt und neu. Die vier Streicher des 2003 gegründeten New Yorker Ensembles biegen, nach Arvo Pärts minimalistisch karger "Summa", auf die dunklen Kunstwege vokaler Renaissancemusik ein. Madrigale von Luca Marenzio, John Dowland und Orlando Gibbons leuchten auf im blendenden Bearbeitungsmodus für Streichquartett. Dann plötzlich, als moderner Ohrwurm, das dritte Quartett von Philip Glass, bekannt als Sound aus Paul Schraders gleichnamigem Film "Mishima". Am Ende Pärts "Fratres", die Grübler räumen ab (Sony).

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