Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Klavierklasse

Der Pianist Vadym Kholodenko mit Prokofjew. Kirill Gerstein mit Busonis Klavierkonzert - mit Männerchor. Die etwas jüngere Generation: Florian Glemser und Alexander Ullman.

Von Helmut Mauró

Fort Worth ist ein Städtchen in der texanischen Wüste, bekannt durch seine Nähe zu Dallas, durch Ölfunde und die in diesem Zusammenhang arg reich gewordenen Bass Brothers. Wo früher Rinder durch die Steppe getrieben wurden, steht heute ein Konzertsaal. Dort finden nicht nur Konzerte mit dem überraschend kultivierten Fort Worth Symphony Orchestra statt, sondern auch ein internationaler Klavierwettbewerb, benannt nach dem einzigen US-Amerikaner, der je den Tschaikowsky-Wettbewerb gewann: Van Cliburn. Heute munkelt man, die Russen wollten damals in Zeiten des Kalten Krieges ein Zeichen des Wohlwollens setzen. Vor sechs Jahren gewann der Ukrainer Vadym Kholodenko den Van-Cliburn-Wettbewerb. Dass dies nicht oder nicht nur aus politischen Gründen geschah, kann man seiner Aufnahme von Sergei Prokofjews erstem, drittem und viertem Klavierkonzert entnehmen (harmonia mundi). Natürlich begleitet vom Fort Worth Symphony Orchestra unter Leitung von Miguel Harth-Bedoya, der es mit dem Metrum nicht immer so genau nimmt. Wenn aber das Klavier einsetzt, fügt er sich der musikalischen Übermacht Kholodenkos, dem die heiter-virtuosen Klänge wie von selbst aus den Fingern rinnen.

Der Jazz hat ihn nicht nur zur Musik gebracht, sondern später auch nach Amerika. Zuvor aber gewann Kirill Gerstein, als 10-Jähriger, einen Bach-Klavierwettbewerb in Polen. Am Bostoner Berklee College of Music studierte er also zunächst Jazz, an der Manhattan School of Music schließlich klassisches Klavier. Dass er heute zu den renommiertesten klassischen Pianisten gehört, verdankt er einer eigenwilligen Klangkreativität und einem profund-universellen Musikverständnis. Darin trifft er offenbar genau die Wellenlänge des musikalisch ebenso universal denkenden Komponisten und Theoretikers Ferruccio Busoni. Dessen aufregendes, ja aufwühlendes C-Dur-Klavierkonzert hat Gerstein nun mit dem legendären Boston Symphony Orchestra unter Leitung von Sakari Oramo eingespielt. Es singen die Männer des Tanglewood Festival Chorus. Eher selten, dass in einem Klavierkonzert gesungen wird, aber diese Konzert will alle Grenzen sprengen. Ein Chorfinale, mit einer Tarantella ungleich fröhlicher eingeleitet als dasjenige von Beethovens Neunter, aber immerhin auch mit großem Pathos dargebracht. Der Chor soll bei Busoni aber unsichtbar sein und von der "ewigen Kraft der Herzen" künden, die Allahs Nähe fühlen und ihn preisen. Auch wieder so eine Schnapsidee, könnte man denken, aber Busoni wollte eine Art Gesamtkunstwerk schaffen, mit der Figur des Aladdin von Oehlenschläger in konzertant-dramatischer Form, dazu Musik, Tanz, Zauberei. Es sollte "etwas Ähnliches wie die Zauberflöte" werden, nur "mit besserem Sinn". Es ist jedenfalls etwas Großes geworden; Gerstein und das Boston Symphony lassen daran keinerlei Zweifel.

Nicht mehr jung, aber noch unbekannt: Florian Glemser, 1990 geboren als Sohn der einstigen Klavierhoffnung, des heutigen Professors Bernd Glemser. Was sogleich auffällt: die elegante Technik von Florian Glemser, die unerhörte Klarheit im polyphonen Spiel. Wo bei anderen angesichts komplexer Kontrapunktik strenger Ernst einsetzt, blüht Glemser auf in nahezu jugendlicher Spiellaune. Von der könnte er durchaus mehr an den Tag legen, denn manchmal, bei weitem nicht durchweg, klingt sein Beethoven-Spiel, etwa in den Eroica-Variationen (Oehms Classics), zu aufgeräumt, zu korrekt, zu professoral - er unterrichtet auch schon. Aber nicht uninspiriert und allemal unangestrengt virtuos. Aber: Da geht musikalisch noch mehr! Soviel Talent verpflichtet - nicht nur zum Dozieren.

Die von Mikhail Pletnev erarbeitete Klavierfassung von Peter Tschaikowskys Nussknacker-Suite scheint sich durchzusetzen. Viele Pianisten spielen das Stück mit virtuosem Spaß, und auch der 1991 in Großbritannien geborene Alexander Ullman ist kein Kind von Traurigkeit. Aber er will hörbar mehr, als nur akademischer Tastenunterhalter zu sein. Auf seiner jüngsten CD stellt er vier Arrangements von Ballettsuiten vor (Rubicon): Neben Tschaikowskys "Nussknacker" sind das Igor Strawinskys "Petruschka" und "Feuervogel" sowie Sergei Prokofjews "Cinderella". Allesamt gebrochene Biografien, wie man heute sagt, mit Anspruch auf adäquate künstlerische Darstellung. Der Pianist Alexander Ullman wird ihnen durchweg gerecht, übt sich dabei in Selbstbeschränkung, vermeidet übertrieben ausgestellte Fingerakrobatik ebenso wie grelle Farben und wilde Grimassen.

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SZ vom 26.03.2019
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