Klassikkolumne:Hörbarmachung

Die aus Taiwan stammende, in Deutschland lebende Pianistin Pi-hsien Chen ist eine der besten Spielerinnen neuer und neuester Klaviermusik. Die sechsteilige Box zeigt aber, dass sie auch Scarlatti, Mozart und Schubert fabelhaft darstellt.

Von Wolfgang Schreiber

Musikerinnen und Musiker gibt es, die außergewöhnliche künstlerische Ideen und intellektuellen Fähigkeiten besitzen, öfters in einer der "Normalität" enthobenen Biografie zuhause. Sie werden gern als Wundertiere und Extremisten gefeiert oder abgestempelt.

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Die Pianistin Pi-hsien Chen ist wohl eine solche Musikerin, dabei eine stille, in die Tiefe lotende. Im zarten Alter von neun Jahren kam sie aus ihrer Heimat Taiwan nach Köln zu dem Klavierprofessor Hans-Otto Schmidt-Neuhaus, dem Lehrer auch von Karlheinz Stockhausen und Peter Eötvös. Und entpuppte sich pianistisch und musikalisch als derart geisteswach und musikalisch begabt, dass sie 1972, mit einundzwanzig, den als eisenhart gefürchteten Musikwettbewerb der ARD in München als Siegerin verließ. Absolventin in der Hochschulklasse des Pianisten Hans Leygraf und in Wilhelm Kempffs Kursen zu Positano, spielte Chen in Konzertsälen und auf Platten das klassische Repertoire, dann jedoch auch Schönbergs sperrige Klavierstücke. Sie entwickelte ein hochgradiges Vermögen für die von Traditionalisten gern zum Schreckgespenst ausgerufene faszinierende Avantgardekunst von Meistern wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez oder John Cage.

Welches Kaliber an Reflexion und Musizierlust Pi-hsien Chen verkörpert, die an den Musikhochschulen in Köln und Freiburg als Professorin tätig war, führt eine Box mit Aufnahmen vor, die an einem sehr besonderen Kulturort in Köln entstanden sind. Es sind Live-Mitschnitte von mehreren ihrer Konzertabende in dem einzigartigen, von Architekt Peter Zumthor genial entworfenen Kunstmuseum Kolumba. Inmitten der mittelalterlichen Exponate der Jahresausstellung "Me in a no-time state - Über das Individuum", ganz nahe bei all den denkenden, lesenden und schreibenden Heiligen- und Engelfiguren, verteilte Pi-hsien Chen vom Steinway aus ihre Schätze: Bachs Kunst der Fuge und Schönbergs komplettes Klavierwerk, Scarlatti-Sonaten, Mozart-Variationen und -Stücke, drei Schubert-Sonaten.

Der Kölner Orientalist Navid Kermani war unter den Zuhörern und beschrieb das Konzert als eine "Hörbarmachung", eine "transzendente Erfahrung". Die Booklet-Texte zur Musik hat Pi-hsien Chen selbst verfasst. Der Hörer vernimmt in dem warmtönenden, etwas opulenten Raumklang musikalische Deutungen in Klarheit und Helligkeit, der Intensität und Texttreue, die sogar die entfernten Pole Logik und Charme miteinander verbinden kann. "Mitteilungen vom unteilbaren Werk" - der Box-Titel steht fürs Prinzip ganzheitlichen Hörens (Telos music).

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Von dem Pianisten Hans Leygraf, Jahrgang 1920, dem Lehrer von Pi-hsien Chen, sind nur wenige Tonaufnahmen greifbar, wie diese von 1970/1980. Die Brahms-CD enthält das souverän durchgearbeitete, von den Schwedischen Radiosinfonikern unter Stig Westerberg rau unterbreitete d-Moll-Klavierkonzert sowie die späten Klavierstücke op. 116. Leygraf lässt den raschen Capricci jene scheuen Bärbeißigkeiten zukommen, die den alten Brahms ehrten. Das längste der Stücke, das tiefsinnige spröde Adagio-Intermezzo in E-Dur, spielt er mit der gedankenscharfen Zartheit, die erst in der Ruhe zur Selbstvergessenheit findet (dB Productions).

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Der junge Volodymyr Lavrynenko kam in derselben Stadt zur Welt wie sein großer ukrainischer Landsmann Svjatoslav Richter, 1984 im nordwestlich von Kiew gelegenen Shitomir. Seltsam, dass der so viel Jüngere für Schuberts letzte Klaviersonate in B-Dur ähnlich wie Richter jene Konzentration und Geduld für die Langzeit der melodischen Erzählung aufbringt, die den harmonischen Rückungen, Steigerungen und panisch eingelegten Pausen je erst ihre Spannung garantiert. Die Exposition im Kopfsatz wiederholt Lavrynenko, da hört er in den Abgrund des furchtbaren Trillers im Übergang, hört später die Tragik im Andante-Verlauf. Immer weist der Pianist mit beherrschter Kraft auf die gesanghafte Linienführung hin - auf Kontrolle bei hohem Erregungsgrad. (gwk records).

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Sein Lehrer war Jewgeni Koroliov, 1949 in Moskau geboren, wie Richter Schüler von Heinrich Neuhaus (und Maria Judina), lange Jahre in Hamburg Professor. Der produktive Klassik-Pianist hat sich dem späten Beethoven verschrieben: die Große Fuge vierhändig mit Partnerin, die launischen Bagatellen op. 119, jene exzentrischen op. 126 - und daraufhin die Krönung mit Diabelli, den diabolischen Variationen. Auch Koroliov nimmt sich alle Zeit der Welt, um extreme Deutlichkeit herzustellen. Alles ist somit weit gedacht und wird groß ausformuliert (Tacet).

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