Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Zauberparadiese und Traumfeerien

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Pablo Márquez und Jan Schultsz spielen Stücke für Clavier und Gitarre. Außerdem Enno Poppes Dreiteiler "filz" - und Bach als Saxophon-Jazz-Orchester-Suite.

Von Reinhard J.Brembeck

Was für eine Wohltat, endlich einmal keinen Stream (das Wort wird mit Sicherheit zum Unwort des Jahres) einer Aufführung verfolgen zu müssen, sondern eine handwerklich brillant gemachte Musikaufnahme hören zu können, die keine Seuche als Vorwand braucht, um eine eigenständige Kunstform zu sein, und die zudem ungewöhnliche Entdeckungen zulässt. So befreundeten sich vor 200 Jahren im Wien Ludwig van Beethovens die Claviervirtuosen Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles mit dem aus dem Königreich Neapel stammenden Gitarristen Mauro Giuliani. Die drei komponierten, was sehr ungewöhnlich ist, zusammen Stücke für, ebenfalls sehr ungewöhnlich, Clavier und Gitarre. Pablo Márquez und Jan Schultsz haben einige dieser Stücke jetzt eingespielt: Das sind Zauberparadiese und Traumfeerien (Pan Classics).

Die Karwoche verlangt nach Passionen, aber nirgendwo dürfen derzeit Passionen live vor Publikum gegeben werden, selbst die beliebten Bach-Stücke sind tabu. Also muss es dieses Jahr intimer und schmerzensreicher zugehen. Also ist es Zeit für Giovanni Battista Pergolesis "Stabat mater", die zehnteilige und äußerst pathetische Klage der Muttergottes unterm Kreuz, an dem ihr von den Römern ermordeter Sohn hängt. Den Schmerz der einen Frau singen in Pergolesis Welthit zwei Frauen, und das für moderne Musik und Experimente berühmte und auch hier durch Fulminanz überwältigende Ensemble Resonanz hat neben Dirigent Riccardo Minasi die Sängerinnen Giulia Semenzato und Lucile Richardot verpflichtet, um Pergolesis katholische Weltenklage auf dem Niveau von Bachs protestantischen Passionen zu verorten (harmonia mundi).

Eine ganz andere Sorte von Trauer bietet die Pianistin Beatrice Berrut mit ihrem grandios konzipierten Franz-Liszt-Album, das von den beiden Fassungen der "Lugubre gondola" über die "3 Odes funèbres" und die "Bagatelle sans tonalité" bis zum finalen "Am Grabe Richard Wagners" einen ganz wehmütig der Tristesse und dem Verhangenen ergebenen Großkomponisten bietet, fernab vom üblichen Tongeklimper, das dieser Komponist und Lebemann in seinen berühmtesten Stücken zu produzieren weiß. Bei Berrut zeigt sich der Teufelspianist am Boden zerstört. Was aber bei diesem ewig Rastlosen dennoch in jedem Moment zu faszinieren weiß (Printemps des Arts de Monte-Carlo).

Wer das Wort Filz hört, muss an die derzeit allerorten vorgeschriebenen Gesichtsmasken denken und damit an den politisch-wirtschaftlichen Filz, der mit ihrer Beschaffung verbunden ist. Nichts davon aber hatte Komponist Enno Poppe im Sinn, als er seinen Dreiteiler "filz" für die grandiose Bratscherin Tabea Zimmermann und für das schon in Pergolesis "Stabat mater" überwältigende Ensemble Resonanz schrieb. Poppe liebt solche Titel aus der materiellen Welt, die beiden anderen Stücke auf dieser von ihm dirigierten CD heißen "stoff" und "wald". Diese Musik ist unsentimental rhythmisch, sie kombiniert Momente der minimal music mit Strawinskys Herbheit und erschafft so wild wuchernde Klanglandschaften in gleißendem Licht (wergo).

Eine Karwoche ganz ohne Bach aber ist undenkbar. Dass es aber auch ohne Passion geht, führt das paritätisch mit zwei Männern und zwei Frauen besetzte Berlage Saxophone Quartet vor, das sich die für Cembalo geschriebenen dreißig "Goldberg-Variationen" vornimmt und daraus eine einstündige Saxophon-Jazz-Orchester-Suite macht, die überwältigt, begeistert, überrumpelt. Dass das Stück schon 200 Jahre alt sein soll, glaubt man in keinem Moment (MDG).

Genauso ungewöhnlich ist, was Piotr Anderszewski auf seinem Klavier mit der originell neugeordneten Hälfte der Präludien und Fugen aus dem ebenfalls für Cembalo geschriebenen zweiten Band des "Wohltemperierten Claviers" anstellt. Anderzweski weiß, wie die Stücke bei Leonhardt auf dem Cembalo klingen, wie eigenwillig Gould, Mustonen und Woodward sie sich aufs Klavier anverwandelt haben. Und er findet dann einen eigenen und eigenwilligen Weg zwischen Leichtigkeit, Romantik, Understatement, Impressionismus, Virtuosität, Versonnenheit, Raffinement, Tanz - und Weltentrauer (Warner).

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