Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Die Geige als Muttersprache

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Thomas Zehetmaier spielt Bach; die junge Norwegerin Eldbjørg Hemsing erkundet Grieg und die Bamberger Symphoniker unter Thomas Rösner haben Francis Poulenc aufgenommen.

Von Harald Eggebrecht

Um es etwas großspurig zu formulieren: Die Befreiung des Klangs aus seiner lange nicht geahnten Fesselung beginnt mit dem "Wendepunkt der Virtuosität". So hat Robert Schumann den ultimativen Violinzauberer Niccoló Paganini bezeichnet. Durch Paganinis Kunst wurde plötzlich die unverwechselbare Klanglichkeit der Violine in nahezu all ihren Möglichkeiten erkannt. Danach erfuhren bald die anderen Instrumente in ihren je eigenen Klangmöglichkeiten die Aufmerksamkeit von Komponisten. Berlioz, Wagner, Mahler, Debussy, Ravel und andere erkundeten neuen unerhörten Klangfarbenreichtum in alle instrumentalen Richtungen.

Wenn man Paganinis 24 Capricci gewissermaßen das Neue Testament der Violine nennen kann, so sind Bachs sechs Solosonaten und -partiten das Alte Testament, in dem alle Möglichkeiten, auf der Geige polyphon zu musizieren, in nie dagewesener Weise ausgereizt wurden. Jeder Geiger von Rang wird sich lebenslang damit beschäftigen, so auch Thomas Zehetmair. Bei der Erstaufnahme 1983 spielte er auf einer modern eingerichteten Geige. Bei der Neueinspielung (ECM) benutzt er für die Sonaten ein Barockinstrument von 1750, für die Partiten eines von 1685 und diverse Barockbögen. Bei den Wiederholungen wendet er Verzierungen an, auch in der oft so großvolumig heilig gebotenen Ciaccona scheut er nicht vor zusätzlichen virtuosen Effekten zurück. So entsteht eine jeder Glätte ferne, kernige, manchmal erdig-raue, aber immer von Ausdrucksspannung und vitaler Geigenlust erfüllte Darstellung dieses Konvoluts grandioser Violinmusik. Gebannt folgt man den Expeditionen in die Fugendickichte, in denen Zehetmair nie verloren geht. Die schnellen Sätze sprühen vor Impetus, die stilisierten Tänze gelingen bewusst gravitätisch, die robusteren wie Bourréen, Menuette und die Gavotte en Rondeau aus der E-Dur-Partita wohltuend irdisch und saftig. Und in den langsamen Sätzen vertraut Zehetmair Bachs melodischem Genius vorbehaltlos. Fabelhaft!

Charles Koechlin war der Lehrer von Francis Poulenc. Während Koechlin, selbst Schüler von Jules Massenet und Gabriel Fauré, zeitlebens der Meister eines erweiterten, gewissermaßen spekulativen Impressionismus blieb, ließ sich Poulenc auch von Strawinsky, dem Vaudeville-Theater und Jean Cocteau anregen, um zu einer einfacheren, klareren, dabei keineswegs anspruchsloseren Musik zu kommen. Die Bamberger Symphoniker unter Thomas Rösner haben Poulencs vor keckem Charme blitzende Sinfonietta und sein Klavierkonzert mit dem glänzenden Artur Pizarro in diesem Sinne aufgenommen: Stets geistreiche, pointensichere, dabei hintersinnige Musik. Dagegen wirken Koechlins symphonische Dichtungen op. 129 und op. 130 wie wunderbar ferne Klangfarbenträume. Der eine entsteht "im Anblick des Sternenhimmels" durchsichtig, zart und doch voll Klangsubstanz. Der andere zieht "auf fernen Wogen" dahin, schwermütiger und dunkler. (Odradek)

Der Geigenton der jungen Norwegerin Eldbjørg Hemsing hat etwas Weiträumiges, Unmittelbares, Ungesuchtes, nichts Geschmäcklerisches an sich. Das passt wunderbar zu den drei Violinsonaten von Edvard Grieg. Hemsing und ihr Pianopartner Simon Trčeski zweifeln keine Sekunde an Qualität, Intensität, Einfallskraft und anrührender Schönheit dieser von Landschaftlichkeit, Naturempfindungen und Leidenschaft durchpulsten Musik. Man kann wirklich sagen, da spielt eine in ihrer "Muttersprache" so fulminant und überzeugend, dass es jeden packen muss. Dass die Geigerin selbst Spaß am Musikerfinden hat, zeigen ihre feinen Variationen über eine Volksmelodie. (BIS)

Der Kanadier Glenn Gould wurde 1932 geboren, der Österreicher Friedrich Gulda 1930, zwei einzigartige, das 20. Jahrhundert nach 1945 mitbestimmende Klavierrevolutionäre. Dass beide nicht nur unglaubliche Virtuosen waren, sondern vielfältig begabt etwa als Schriftsteller, und hochklassiges Komponieren in sich hatten, ist bekannt. Die Streichquartette der beiden sind Unikate, Gould schrieb sein "Op. 1" zwischen 1953 und 1955, ein Stück, das sich in langsam-leisen, avancierten Hormonikflächen über einen Satz hin ausbreitet. Guldas Quartett, 1950/ 51 geschrieben, wirkt in seinen drei Sätzen dagegen etwas konventioneller. Aber es lohnt sich, sein Vergnügen am Ansetzen von Bedrohungen, denen nichts Explodierendes folgt, nachzuvollziehen. Das Acies Quartett zeigt souverän, was in den beiden Solitären steckt. (Gramola)

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SZ vom 21.01.2020
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