Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Beethovens "Nulltes"

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Rare Musik eines bekannten Meisters: Mari Kodama und Kent Nagano haben Beethovens "nulltes" Klavierkonzert, die pubertär-frische Talentprobe des damals 14-Jährigen, mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin aufgenommen.

Von WOLFGANG SCHREIBER

Fundstücke, Raritäten nicht nur der Musik, können zu Kostbarkeiten werden. Sie schärfen die Wahrnehmung für das Seltene oder gefühlt Abseitige. Routine muss vermieden werden, Abnutzung des allzu Geläufigen. Das hat gerade bei den großen Komponisten seinen Reiz, so bei Beethoven, in dessen nach Opuszahlen geordnetem dicken Schaffenskatalog auch all die nummerierten "Werke ohne Opuszahl" (WoO) aufgelistet sind - Jugend-, Gelegenheits- und Nebenwerke, denen Beethovens Nachwelt die Bekenntnisgröße verweigerte.

Das anstehende Beethoven-Jahr bietet Gelegenheit zum Ausgraben rarer Musiken des Meisters aus Bonn. Wer hat gewusst, dass es neben den bekannten fünf Klavierkonzerten Beethovens "Nulltes" in Es-Dur gibt, das WoO 4 des 14-Jährigen. Mari Kodama und Kent Nagano haben die knapp halbstündige, pubertär-frische Talentprobe mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin aufgenommen. Dreisätzig prunkt das Konzert mit längst nach vorn drängendem Erfindungspotenzial und starkem, wenngleich noch eng an Patrone wie Haydn und Mozart orientiertem Ehrgeiz. Nach dem pointiert graziösen Larghetto sprudelt das Rondo-Allegretto nur so vor virtuoser Laune. Form und Timing werden schon gesteuert. Als "Zugaben" musizieren Kodama und Nagano sorgfältig und belebt Beethovens fünf Klavierkonzerte sowie das Tripelkonzert (Berlin Classics).

Auch Sophie-Mayuko Vetter hat Beethovens Klavierkonzert Nr. 0 neu aufgenommen, mit den von Peter Ruzicka dirigierten Hamburger Symphonikern: Auf einem historischen Hammerflügel liefert sie ein transparentes, leichtgängiges Spiel. Glänzen will die Pianistin aber mit einem Fundstück der besonderen Art, dem hier erstmals eingespielten Beethoven-Klavierkonzert Nr. 6, in D-Dur, einem von Nicholas Cook 1987 eingerichteten, von Hermann Dechant ergänzten Fragment. Erhalten sind 70 Seiten Skizzen zu einem Allegro-Kopfsatz, heißt es, sogar ein Partitur-Autograph (Staatsbibliothek Berlin). Warum der Komponist 1814 ein sechstes Klavierkonzert nicht beendet hat, erschließt sich beim Hören: Die Noten zeigen "Anzeichen von Unentschlossenheit oder Unzufriedenheit" (Booklet). Eine routinierte Virtuosität ist in dem imposanten, doch seltsam zerfahrenen Entwurf Beethovenschen Zugriffs nicht zu leugnen (Oehms).

Wenige dürften das Klavierkonzert in a-Moll von Ignaz Jan Paderewski (1860 - 1941) kennen. Der weltberühmte Pianist, Komponist und Politiker, Polens erster Ministerpräsident nach dem Ersten Weltkrieg, komponierte das reißerische Stück, sein Opus 17, in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Claire Huangci, die junge Amerikanerin chinesischer Abstammung unterzieht sich der exzentrischen Aufgabe mit der nötigen Brillanz. Sie und die Deutsche Radio-Philharmonie, dirigiert von der Koreanerin Shiyeon Sung, führen die pompöse Gestik des Kopfsatzes massiv ins Feld, die sprungbereit rasenden Passagen des Vivace-Finales. In der sinnierenden Romanza entfaltet sie feinsinnig schöne Lyrismen. Huangci wählte als "Rausschmeißer" den anderen großen Polen: Chopin, das Klavierkonzert in e-Moll. Die leicht behäbigen Grundtempi lassen das vehemente und durchgehend poetisch artikulierte Musizieren der Pianistin nicht verkümmern (Berlin Classics).

"Mit Heinz über ein neues Werk zu sprechen war schwierig", erinnert sich Dennis Russell Davies, jener Dirigent, der die fünf Symphonien des Komponisten Heinz Winbeck (1946 - 2019) aufgeführt hat. Denn "für Heinz war das Komponieren eine Auseinandersetzung mit Leben und Tod". Solche Musik zu hören bietet sich jetzt die Gelegenheit - lohnend, weil hier ein komponierender "Unzeitgemäßer", der aus Niederbayern stammte und in München von Wilhelm Killmayer auf seinen Weg geführt wurde, zur eigenen schwierigen Individualität gefunden hatte, befreit von allen musikalischen Moden oder Dogmen der Zeit. Winbeck bezog seine Kraft aus Anton Bruckners kathedralhafter Symphonik: Aus Bruckners Skizzen zum Finale der unvollendeten Neunten baute er seine eigene große Fünfte, die mit Glockenschlägen beginnt und in quaderhafter Architektur, Misterioso-Geisterbeschwörung und monumentalen Schüben endet. Ihr Untertitel "Jetzt und in der Stunde des Todes". Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Russell Davies ist zur Aufbietung aller Kraftreserven bereit. Drei weitere Orchester bestreiten die charakteristischen Symphonien 1-4 - Heinz Winbecks klingendes Erbe (TYXart).

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SZ vom 15.10.2019
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