Süddeutsche Zeitung

Klassikkolume:Im Licht der Klarheit

1957 nahmen die Berliner Philharmoniker erstmals Beethovens Sinfonien auf - mit André Cluytens.

Von Wolfgang Schreiber

Berlin, November 1913. Zum ersten Mal gelingt die Aufzeichnung einer kompletten Beethoven-Symphonie, die Fünfte. Die Berliner Philharmoniker dirigiert Arthur Nikisch. Was die Schalltrichter einfingen, um den Klang von der Membran über einen Tonarm auf Wachsmatrize zu ritzen, geht fast unter im Rauschen. Übrig bleiben Nikischs resolute Tempi. Knapp ein halbes Jahrhundert später nehmen die Berliner Philharmoniker erstmals alle Beethoven-Symphonien auf (Warner). Es dirigierte der 1905 in Antwerpen geborene André Cluytens. Er zählte zur Dirigentenelite: Chef des Pariser Orchestre de la société des Concerts du Conservatoire und des belgischen Nationalorchesters, Gastdirigent bei den Philharmonikern in Wien und Berlin, an den Opernhäusern in Paris und Mailand, Wien und London. Dass die Berliner Philharmoniker Cluytens 1957 für Beethoven einluden, überrascht. Stand doch, nach Furtwänglers Tod, Karajan schon seit drei Jahren an der Orchesterspitze. Kurz danach dirigierte Karajan die erste seiner drei Berliner Beethoven-Einspielungen.

Cluytens orientierte sich an Furtwängler. Er glaube, "dass der spezifische Klang eines Orchesters in erster Linie aus der langen Zusammenarbeit mit einem großen Dirigenten erwächst". Berlins Philharmoniker trügen somit "noch immer den Stempel Wilhelm Furtwänglers". Er dirigiere zwar oft in Berlin, "aber keinen Beethoven und Wagner", das Orchester wolle "die französischen Impressionisten von mir". Was Cluytens Pariser Aufnahme von Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" grandios bestätigt.

Genau diesen Mann für Bayreuth wollte 1955 Festspielleiter Wieland Wagner, der "lateinische Dirigenten" liebte. Sein Ideal der Wagner-Interpretation heiße: "weniger Pedal, weniger Pathos, kein Schrei, Entfettung und subtile Klangmischung". In André Cluytens hatte der Wagner-Enkel den Dirigenten gefunden, "den ich als ideale Ergänzung für meine szenische Arbeit gesucht habe". Cluytens dirigierte in Bayreuth den "Tannhäuser", "Lohengrin", "Meistersinger" und "Parsifal". Den leitete danach wieder ein Franzose: Pierre Boulez.

Cluytens, aufgewachsen in Frankreichs Musiktradition, setzt stets auf seine Intuition für prägnante Orchesterfarben

Beethoven mit den Berlinern im Licht der "clarté", das erscheint beim Hören heute kaum abwegig. Cluytens, weder Spätromantiker noch früher Originalklanghistoriker, war ein Mann exakter Gefasstheit. Sein Beethoven, fest in der Interpretationsgeschichte verankert, braucht weder gezielte Originalität noch Mythisierung oder Pathos. Es überwiegt eine Prozesshaftigkeit, ein élan vital, durch den die Symphonien atmen und leuchten. Die Eleganz inspirierten Orchesterspiels überzeugt bei der ersten und zweiten Symphonie, die ihre Herkunft von Joseph Haydn schlüssig entfalten, ohne Beethovens energische Subjektivität zu leugnen.

Im dramatisch hochgefahrenen Hergang der Eroica oder der Fünften strahlt das Orchester unter Cluytens bei aller Klang- und Verlaufsverdichtung dennoch innere Ruhe aus, Überlegenheit im Ausbalancieren von Kraftentladung und Kontrolle, philosophischer Durchdringung und symphonischer Formlogik. Cluytens, aufgewachsen in Frankreichs Musiktradition, setzt stets auf seine Intuition für prägnante Orchesterfarben. Weder also folgt er dem Espressivo Furtwänglers noch interessiert ihn Karajans von Toscanini hergeleitete Klangperfektion. Stark, nicht nur in der Pastoral-Symphonie, wirkt lyrische Empfindungswärme, die auf ein emotionales Einverständnis mit Beethovens kämpferischer Menschenliebe schließen lässt.

Was Cluytens und die Berliner aufbieten, ist ein Instrumentalbild, das Beethovens eigentümliche Klangfiguren beim Wort nimmt: das melodisch, harmonisch, rhythmisch dramatisierte Gleichgewicht, das individualisierte Sprechen von Streicher- und Bläserfiguren, fern jeden dynamischen Bombasts. Genauigkeit der Phrasierung erscheint so naturgegeben richtig wie, Maßstab aller Gestaltung europäischer Klassik, die Schlagkraft in Tempi, welche die Artikulation nie vernuscheln. So bleibt Cluytens auch in den rasanten Finalsätzen der Siebenten oder Achten, auch im Scherzo der Neunten, wo das Rasen die Sprachfähigkeit verdirbt, bei Klarheit und Besonnenheit.

Sogar die Neunte, mit ihrer extremen Ausweitung von Denken, Umfang und Ausdruck, folgt bei aller Grenzüberschreitung dem Impuls des poetischen Formbewusstseins, koordinierten Spannungsaufbaus. "Genauigkeit, Anmut, Leichtigkeit" hat ein französischer Kritiker Cluytens zugeschrieben. Dass der flammende Neuerer Beethoven von diesem Dirigenten profitieren konnte, überrascht nicht mehr, denn: "Sein ganzes Wesen strahlt Lebensfreude aus".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4903913
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.