Klassik:Zweiter Satz: Vulkanausbruch

Ein neu geschriebenes Violinkonzert von Beat Furrer und Musikmachen in Zeiten der Seuche: Ein Probenbesuch in München.

Von Reinhard J. Brembeck

Draußen vor dem Technikum arbeitet sich wummernd ein Bagger durchs Werksviertel, diesem derzeit fast menschenleeren Münchener Vergnügungsviertel, ein Hybrid aus Rummelplatz, Baugruben und Allotriagastronomie. Im Technikum, einem für Popevents idealen Saal, arbeitet sich Ilya Gringolts bei einer Orchesterprobe und gegen den Baggerlärm durch das neue Geigenkonzert, das der österreichische Erfolgskomponist Beat Furrer für ihn geschrieben hat. Es soll am Donnerstag im Prinzregententheater uraufgeführt werden.

Gringolts, Jahrgang 1982, ist ein kleiner, bärtiger und ruhiger Mann mit dem Hang zum Extremen. Zu seinem Naturell passend beginnt der zweite Konzertsatz wie ein Vulkanausbruch. Gringolts vergleicht Furrers Musik mit Lava. Doch er, der Geiger, ist in der Probe eindeutig der Vulkan. Ohne exaltierte Bewegungen, aber innerlich glühend und furios schmettert Gringolts rasante Tonkaskaden in den Raum. Die Phrasen sind oft extrem zersplittert, immer wieder werden einzelne Töne durch ein lauernd gleitendes Kratzen miteinander verbunden. Gringolt erzeugt einen erdenschwer dunklen Geigenklang. Die knapp vierzig Musiker des Münchner Kammerorchesters haben keinerlei Chance, diesen Geiger einzufrieden oder zu übertönen, zumal ihnen der Komponist genauso halsbrecherische Bravourstücke abfordert wie dem Solisten.

Klassik: Die Koordinatoren der Eruption: Dirigent Clemens Schuldt und Solist Ilya Gringolt.

Die Koordinatoren der Eruption: Dirigent Clemens Schuldt und Solist Ilya Gringolt.

(Foto: Florian Ganslmeier)

Alles an dieser Probe wirkt wie gehabt normal, und doch ist alles anders als früher. Nur merkt das der Beobachter erst gar nicht. So sitzen die Musiker ein bisschen weiter auseinander als sonst, das erfordert der Seuchenschutz. Deshalb können sie auch nicht in ihren üblichen, weil dafür zu kleinen Probenräumen spielen, deshalb weichen sie ins derzeit kaum genutzte Technikum aus, die Werksviertelbetreiber kommen der Truppe dabei finanziell entgegen. Ach, das Geld.

Florian Ganslmeier ist seit fünfzehn Jahren der Geschäftsführer der Truppe, die von einem gemeinnützigen Verein betrieben wird und deshalb keine finanziellen Rücklagen bilden darf. Ganslmeier nennt ohne Panik Zahlen. Der Jahresetat von dreieinhalb, vier Millionen Euro wird zu mehr als der Hälfte von der Stadt München und vom Freistaat Bayern gedeckt. Aber ein Viertel kommt durch Eintrittsgelder zusammen. Üblicherweise. Früher hätte die Truppe, die von April bis September in Kurzarbeit war, bis Ende September knapp 900 000 Euro eingenommen. Dieses Jahr sind es nicht einmal 200 000, also weniger als ein Viertel.

"Wir verschieben das Forte. Ob er es merkt?"

Ein Konzert im Prinzregententheater kostet die Truppe 40 000 Euro, die Hälfte wird durch die Tickets gedeckt. Derzeit ist der Saal seuchenbedingt etwas günstiger zu haben als sonst, allerdings muss die Bühne wegen der Abstandsregeln vergrößert werden, was zusätzlich kostet. Ilya Gringolts bekommt das übliche Solistenhonorar, muss aber die Furrer-Uraufführung zweimal hintereinander spielen. So können wenigsten zweimal 200 Menschen das Stück in dem 1000-Plätze-Saal hören, der sonst immer fast voll ist. Dazu stehen noch Wolfgang A. Mozart und Charles Ives auf dem Programm.

Klassik: Der Erfinder der Eruption: Der österreichische Komponist und Dirigent Beat Furrer.

Der Erfinder der Eruption: Der österreichische Komponist und Dirigent Beat Furrer.

(Foto: David Furrer)

Es gibt aber noch andere Sorgen. Stadt und Freistaat werden demnächst die Kulturetats festlegen, jeder geht davon aus, dass es 2021 sehr viel weniger Geld als bisher geben wird, noch sind keine Details bekannt. Und sollte ein Musiker jetzt noch positiv getestet werden, dann würde das ganze Projekt scheitern. Denn die Partien in Furrers Stück sind solistisch gehalten und sehr schwer, niemand könnte ad hoc einspringen. Schon gleich gar nicht für Ilya Gringolts. Zumal auch keiner unter den großen Geigern auch nur annähernd dessen bedingungslose Expressivität besitzt, mit der Furrers Zwanzig-Minuten-Eruption unbedingt rechnet.

Aber: Ohne die Seuche gäbe es dieses Violinkonzert nicht. Denn Beat Furrer, Jahrgang 1954, hat keine Zeit. Er schreibt Stück um Stück für Bühne, Orchester, Chöre, Ensembles, Solisten, und er dirigiert viel. Schon vor acht Jahren hat das Orchester ihm diesen Kompositionsauftrag erteilt. Seit Monaten sitzt Furrer auf einer österreichischen Berghütte, aber jetzt erst hat er die Zeit für diesen Auftrag gefunden, der von der Siemens-Musikstiftung bezahlt wird. Im Juli erhielt Gringolts, Furrer hat begeistert für diesen Geiger geschrieben, die ersten Skizzen, Mitte August dann die fertige Partitur. Seinen Solopart hat Gringolts von Basel aus, da lebt er, per Skype dem Meister vorgespielt, der erst zu Generalprobe und Uraufführung anreisen wird.

Dass Furrer nicht bei den Proben dabei ist, bedauert nicht nur Gringolts. Auch für das Ensemble und Dirigent Clemens Schuldt stellen sich Fragen. Die Partitur ist nicht fehlerfrei, manche Stellen klingen mit kleinen Veränderungen besser. "Wir verschieben", so Schuldt zu den Musikern, "das Forte. Ob er es merkt?" Mit er ist Furrer gemeint. Die Partitur ist rhythmisch kompliziert, doch im Klang ist alles sehr klar, nichts ist rätselhaft - Ausweis eines Meisterwerks. Furrer reiht Klangteppiche aneinander, setzt dunkles Raunen gegen gehetztes Sologehäcksel, harte Kontraste treffen aufeinander, rasant virtuose Läufe kommen wie ein Hauch daher. Dann ereignet sich ein Zusammenbruch so grandios final wie bei Gustav Mahler, die Violine sucht Zuflucht in den höchsten Himmelsregionen, doch das Akkordeon tackert sie an die Erde fest, Hektik wuselt und girrt. Alles ist wirkungsvoll, mitreißend, komplex, eine Filmmusik, die keinen Film braucht.

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