Süddeutsche Zeitung

Klassik:Zeithäckseleien

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Was passiert, wenn ein Algorithmus ein Klavier-Recital kuratiert? Die Donaueschinger Musiktage 2019 positionieren sich zwischen künstlicher Intelligenz, Scheu vor Weltanschauung und existenzieller Emphase.

Von Michel Zwenzner

Klangkunst? Die Bezeichnung ist rätselhaft, hochtrabend und vielversprechend. Bereits seit den frühen neunziger Jahren wird sie konsequent in das Konzertprogramm der Donaueschinger Musiktage integriert, in dieses 1921 gegründete und noch immer wichtigste Festival für neu komponierte Musik. Klangkunst bestimmte auch die diesjährige, von Björn Gottstein betreute Ausgabe des Festivals, zu dem er 31 Komponisten in die kleine Stadt im Schwarzwald geladen hatte.

Das noch junge Genre Klangkunst bietet hinsichtlich der ästhetischen Wahrnehmung von Kultur- und Naturklang, Stille und Geräusch, Innen- und Außenräumen ein riesiges Potenzial, um das Sensorium eines breiten Publikums zu erreichen. Erstmals wurde jetzt eine permanente Klanginstallation eingeweiht. Fünf an Stahlseilen hängende, mit Lautsprechern versehene und in verschiedene Richtungen abstrahlende akustische Parabolspiegel verteilen sich unter der stählernen Pergolakonstruktion vor den Donauhallen, dem Hauptveranstaltungsort des Festivals. Ein aus Sprache, Naturlaut und elektronischen Klängen collagiertes Geräuschenvironment lädt zum interaktiven Erkunden von nur durch Schall konkretisierten Räumen ein. Geschaffen hat diesen "Tonspiegelraum" der seit den sechziger Jahren international aktive, lange Zeit in New York und derzeit in Österreich arbeitende Architekt Bernhard Leitner.

Das Gros des Festivalprogramms jedoch fand wie üblich in den Donauhallen und diversen Turnhallen statt. Auch in den Konzerten überzeugten vor allem musikalische Raumauslotungen. So in den Kompositionen von Michael Pelzel, Mark Andre und Alberto Posadas. Die "Poética del espacio" des 1967 geborenen Posadas entfaltete etwas strapaziöse einhundert Minuten lang eine komplexe Raum-, Zeit- und Klangdramaturgie mit mehreren im Raum verteilten Instrumentalgruppen des fabelhaft musizierenden Klangforum Wien.

Neben der Erforschung neuer Klänge, Klangräume und Hörsituationen begegnete man gelegentlich retrospektiven Haltungen. Mal wirkten diese Ausflüge in die Musikgeschichte eher beiläufig wie im postimpressionistischen "T.E.R.R.A II" von Nina Senk. Oder ganz und gar freiwillig in "Melancholie", einem kitschig-pathetischen Mundharmonikakonzert von Saed Haddad, genauso in den harmonisch sanften, durch extrem leise Klangfolgen bezwingenden Orchesterstück "Elemental Realities" von Jürg Frey, das das Festival beschloss. Oft wurden kleine Zeitfenster in die Vergangenheit geöffnet. So durch die von der Seitenbühne geschmetterten Jagdsignale zweier Hornisten in "Allein", einem aus kleinsten Zellen heraus getriebenen Violinkonzert von Johannes Boris Borowski, das das Ensemble Intercontemporain unter Matthias Pintscher in immer komplexere Verwicklungen jagte.

Ein viel diskutierter Programmpunkt beschäftigte sich mit der Digitalisierung, mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz

Auffallend war das nahezu völlige Fehlen weltanschaulicher Positionen, was in Zeiten tief greifender gesellschaftlicher Umbrüche verwundert. Offensichtlich dominiert die Scheu, sich thematisch auf die Gegenwart zu beziehen. Immerhin zeigte sich in Mark Andres religiös inspiriertem "rwh 1", dessen Titel sich auf das aramäische Wortfeld "Atem, Luft, Geist, Hauch, Seele" bezieht, aber auch in Christian Lillingers nach Ideen Karl Poppers gestaltetem "Open Form for Society", dass heutige Musik immer wieder auch zu existenzieller Dringlichkeit und aufrüttelnder Emphase vorstoßen kann.

Ein viel diskutierter Programmpunkt beschäftigte sich mit der Digitalisierung, mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz, die in Donaueschingen als Kuratorin eines Klavier-Recitals eingesetzt wurde. Dies geschah sicher auch im Geiste John Cages, der mithilfe des Zufalls den eigenen Gewohnheiten zu entkommen trachtete. Allerdings scheint das Computerprogramm, anders als Cage, einen eigenen Geschmack entwickelt zu haben, der mit flächigen Fakturen sympathisierte. Dies war das Ergebnis der menschlichen Fütterung des Computers mit einhundert je zur Hälfte von Frauen und Männern stammenden Musterklavierstücken seit 1945, dazu zehn Negativbeispiele etwa von Richard Clayderman. Deren Analyse diente der Herausbildung numerisch abgebildeter Bewertungskriterien. Von den eingesandten Partituren erreichten drei klanglich zwar abwechslungsreiche, aber auch etwas ähnliche Stücke die höchsten Computer-Scores.

Mit dem diesjährigen Preis des SWR-Orchesters wurde die enorm schwer zu spielende Chor-Orchester-Bigband-Video-Assemblage "TRIO" des dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen ausgezeichnet. Diese umjubelte Komposition war die unkonventionellste und gleichzeitig unterhaltsamste unter den groß besetzten Donaueschinger Novitäten. Durch audiovisuelle Archivmaterialien und die erstmals zusammen auftretenden Ensembles des SWR führte Steen-Andersen durch gut siebzig Jahre deutscher Rundfunkgeschichte. Das gelang mal virtuos verspielt, mal hintergründig humorvoll, aber auch anrührend nachdenklich und zwar dann, wenn das SWR-Symphonieorchester in intime Wechselspiele mit seinen filmisch dokumentierten und längst verstorbenen Chefdirigenten wie Sergiu Celibidache oder Ernest Bour eintrat. Allzu nostalgische Anwandlungen wurden durch eine unerbittliche Zeithäckselmaschinerie unterbunden.

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Quelle:
SZ vom 04.11.2019
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