Dirigenten sieht das Publikum in der Regel nur von hinten, der Blickkontakt ist den Musikern vorbehalten. Und von hinten wirkt Simon Rattle, der von vorn durch seinen Charme, die hellwachen Augen und die weißen Lockenhaare betört, erstaunlich stämmig, ja wie ein Kraftwerk, das Unmengen an Energie ins Orchester pumpt und dadurch seine Musiker vom London Symphony Orchestra (LSO) wie auch den ausverkauften Saal der Münchner Philharmonie unter Hochspannung setzt. Ein Orchesterfeuerwerk der absoluten Sonderklasse. Für ein solch eruptives Werk wie John Adams' "Harmonielehre" ist die viel gescholtene Gasteigakustik konkurrenzlos gut. Mit Bangen nur wagt der Zuhörer dran zu denken, dass bei der anstehenden Sanierung die Akustik jenem Yasuhisa Toyota überantwortet werden soll, der sich in der Hamburger Elbphilharmonie gründlich verrechnet hat. Aber Rattle, der den Gasteig lange gemieden hat und seit eineinhalb Jahren das LSO leitet, ist an diesem Abend in Bestform. Seit seinem Abschied von den Berliner Philharmoniker sind bei Rattle wieder Neugier, Frische und Mut eingekehrt. Die LSO'ler sind weniger präpotent und kühl als ihre Berliner Kollegen. Deshalb klingt die 40 Minuten lange und klassisch dreisätzige "Harmonielehre" nicht nur in den romantischen Streichpassagen, sondern auch in den rhythmischen Orgien und den kühnen Klangschärfungen so, als habe Anton Bruckner doch noch eine späte zehnte Sinfonie geschrieben.
Rattle & sein LSO fahren mit Understatement die gesamte Palette orchestraler Möglichkeiten auf, von leise geschnurrt über guttural geraunt bis hin zu grandios geschmettert. Das Londoner Ensemble füllt mühelos die Riesenbühne aus, weshalb selbst hinter den zartesten Momenten stets die Möglichkeit des ganz großen Klangknalls lauert. Zudem klingt das Stück, trotz seiner melancholischen Untertöne, noch immer frisch, unkonventionell, zukunftssüchtig. Obwohl Adams so unverhohlen auf die Romantik und den Impressionismus Bezug nimmt. Diese Aufführung ist eine Sternstunde des zarten Kraftkünstlers Rattle.