Süddeutsche Zeitung

Klassik:Wenn Bäume singen könnten

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Der Komponist Pascal Dusapin bei den Salzburger Festspielen: mit "Morning in Long Island" und mit seinen Fotos.

Von Michael Stallknecht

Es war eine kalte, neblige Nacht auf Long Island, und Pascal Dusapin konnte nicht schlafen. Also ging er hinaus, sah am Strand den Brechungen der Wellen zu, lauschte den Vögeln, der Musik aus einem fernen Club - und bannte die Stimmung später in sein Orchesterstück "Morning in Long Island", das man dieser Tage mit dem ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Gábor Káli in der Salzburger Felsenreitschule hören konnte. Es erstaunt wenig, dass sich Naturmotive häufig auch in Dusapins Fotografien finden, die derzeit im Haus für Mozart und der Salzburger Leica-Galerie zu sehen sind: Schneeflächen, die von einer Reihe dunkler Bäume am Horizont begrenzt werden, oder das Meer, über dem ein Vogel fliegt.

Dass die Salzburger Festspiele ihre laufende Konzertreihe "Zeit mit Dusapin" um die Ausstellungen ergänzt haben, ist schon deshalb richtig, weil es etwas über die weitgespannten Interessen des französischen Komponisten erzählt, den das Visuelle ebenso fasziniert wie das Akustische, die Literatur wie die Natur. "Ich bin wirklich verrückt nach Büchern", sagt Dusapin im Gespräch, der sich deshalb selbst am liebsten als "écrivain de musique", als Musikschriftsteller bezeichnet. Und: "Ich lese mehr, als ich Musik höre."

Der Vielfalt seiner Lektüren begegnet man auch in den Konzerten, wenn der französische Chor Accentus unter Leitung von Laurence Equilbey mit einem "Dona eis" und einem "Umbrae mortis" Vertonungen aus dem lateinischen Totenoffizium, aber mit "Granum sinapis" auch die eines mittelhochdeutschen Textes von Meister Eckhart singt.

Dass ein solches Interesse an mehreren Sprachen und Kunstformen irgendwann in der Oper münden muss, liegt auf der Hand. Acht davon hat Dusapin bereits komponiert, in vier verschiedenen Sprachen, im September wird seine neunte an der Brüsseler Oper uraufgeführt werden, ein "Macbeth" nach William Shakespeare.

In der zeitgenössischen Musik sieht er "eine Angst vor Expressivität und Gefühl"

Von Anfang hat der heute 64-Jährige gern die großen, mythischen Stoffe gewählt, wie in "Medeamaterial", seiner 1992 in Brüssel uraufgeführten Oper nach dem gleichnamigen Text von Heiner Müller, die unter der Leitung von Franck Ollu konzertant in Salzburg wiederzuhören war. Im Grunde handelt es sich um einen einstündigen Monolog der Titelfigur, einer Reise durch ihren Kopf, bei dem das Vocalconsort Berlin Medeas Texte in verschlungenen Linien oder liegenden Clustern verdoppelt, während die Akademie für Alte Musik Berlin den ungewöhnlicherweise für ein Alte-Musik-Ensemble konzipierten Orchesterpart übernimmt. Der Sopranistin Jennifer France fällt damit ein hochdramatischer Part zu, der die Gefühlszustände einer Kindsmörderin bis in die letzte Verzweiflung auskostet.

Die menschliche Stimme sei die Basis, sagt Pascal Dusapin, auf der er alles, auch seine Orchesterwerke, aufbaue, die er ebenfalls als Erzählung begreife. "Ich denke an Musik immer in einer vokalen Weise." Das unterscheidet ihn von vielen zeitgenössischen Komponisten, die sich gerade mit dem Einsatz der Stimme schwertun. "Die Stimme ist Trägerin des Gefühls", sagt Dusapin, der hier in der zeitgenössischen Musik häufig "eine Angst vor Expressivität und Gefühl" am Werk sieht.

Dabei ist Dusapin zweifellos das, was man einen Erfolgskomponisten nennt, ein höchst produktiver dazu. Doch wie viele der heute erfolgreichen Kollegen hat er sich seinen Weg in einer Zeit gebahnt, die von der Tendenz zu rationalen Systemen und den zugehörigen Schulen geprägt war. Dusapin entging ihnen schon deshalb, weil er Autodidakt ist. Nur zwei Semester studierte er als Gaststudent bei Olivier Messiaen am Pariser Conservatoire, danach flüchtete er in Vorlesungen an der Sorbonne, in denen der Komponist Iannis Xenakis über alles Mögliche sprach, natürlich auch über Musik.

Xenakis bezeichnete ihn später als seinen einzigen Schüler, Dusapin ihn bis heute als seinen "Meister", auch wenn er zugleich betont, dass er kein System übernommen habe, auch nicht das des Meisters. Dass man in Xenakis' Musik zahlreiche Stellen gefunden habe, die innerhalb des Systems eigentlich nicht möglich sein dürften, amüsiert ihn deshalb. Ebenso wie es ihn amüsiert, dass inzwischen dicke Bücher über seine eigene Musik geschrieben werden, die am Ende nicht herausfinden, wie diese gebaut ist.

Über seine Kompositionstechniken wahrt Dusapin striktes Stillschweigen, weil er sich auch nicht in einem von ihm selbst gestellten System verfangen möchte. "Ich will total frei sein", sagt er, "manchmal zerstöre ich meine eigenen Regeln, und niemand bekommt es mit." Weil Dusapin überzeugt ist, dass man Komposition letztlich nicht lehren könne, hat er auch selbst nie die Sicherheit einer Hochschule angestrebt, übernimmt aber gelegentlich Gastprofessuren.

Dabei kommt seine Musik nie als reiner Ausbruch des Irrationalen daher, ist vielmehr deutlich von Regelhaftigkeit geprägt. Sie lebt von einer geradezu extremen Ökonomie des Materials, gerade die Chorstücke, die Accentus in Salzburg singen, klingen in ihrer makellos eleganten Durchhörbarkeit fast schon auf kunstvolle Weise spärlich. Gern entwickelt Dusapin ganze Strecken aus einem einzigen Intervall, dessen Rotationen auch von mathematischen Prinzipien geprägt sind, wie er keineswegs leugnet.

Eine Regelmäßigkeit stellt sich ein, die man auch in seinen Fotos beobachten kann. Da fängt Dusapin gern in perfekt gewählten Ausschnitten die Ordnung ein, die die Natur beim Gang der Wellen, in den Schichten eines Gesteins oder in der Form von Eiszapfen ausbildet, aber auch die, die der Mensch mit den Furchen eines Feldes schafft oder im Zebrastreifen auf einer Straße. Dass manche Bilder dabei nah am Postkartenmotiv vorbeischrammen, passt zu einer Musik, die manchmal ebenfalls als "zu schön" empfunden wird. "Apart" ist ein zweischneidiger Begriff, den Kritiker nicht selten für Dusapins Kompositionen verwenden, andere diagnostizieren eine typisch französische Eleganz.

Für Dusapin selbst dürfte es dagegen gerade die Schönheit sein, die Menschen im Innersten anrühren - und damit auch verletzen kann. "Die Musik macht mich manchmal verrückt, leidenschaftlich", sagt er, "ich bin sehr glücklich mit ihr, aber sie kann mich auch unglücklich machen, extrem traurig, nicht nur meine eigene." Das Fotografieren brauche er schon deshalb als Ausgleich, weil es für ihn "reines Vergnügen" sei - eine "Form, dem Wahnsinn der Musik zu widerstehen".

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Quelle:
SZ vom 06.08.2019
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